
Schon 1985 berichtete das «Journal of Rheumatology» von einer Studie, die bei Patienten mit Morbus Bechterew respektive rheumatoider Arthritis eine signifikant höhere Durchlässigkeit der Darmschleimhaut nachwies als bei der Kontrollgruppe.1 Seitdem hat die Erforschung des Leaky-Gut-Syndroms schon einige Erkenntnisse gewonnen.
Das Leaky-Gut-Syndrom

Bei einem «undichten Darm» (englisch: leaky gut) gelangen gewisse problematische Stoffe durch «Lecks» des Verdauungstraktes in den Blutkreislauf. Gemeint sind Giftstoffe, Mikroben wie Bakterien und Pilze sowie unvollständig verdaute Teile der Nahrung. Das Leaky-Gut-Problem betrifft vorrangig den Dünndarm mit seiner mehrschichtigen Schleimhaut, die zwischen dem Nahrungsbrei und den Blutgefässen eine Barriere bildet. Eine intakte Darmbarriere lässt nur Nährstoffe und Wasser ins Blut übergehen. Bei einer durchlässigen Darmbarriere hingegen gelangen auch grössere Nahrungsmoleküle und schädigende Stoffe direkt ins Blut, wo sie auf Zellen des Abwehrsystems treffen, was deren Gene aktiviert, Entzündungsstoffe freizusetzen.
Das Leaky-Gut-Syndrom in ein zentrales Arbeitsfeld der funktionellen oder biologischen Medizin. Die Stärke dieses relativ neuen medizinischen Ansatzes liegt in der Diagnostik und der Behandlung chronischer Erkrankungen auf der Basis aussergewöhnlich gründlicher Laboruntersuchungen von Probenmaterialien wie Speichel, Blut, Stuhl und Urin.
Leaky Gut und Autoimmunerkrankungen
Funktionelle Mediziner denken bei allen Erkrankungen mit autoimmunen Zügen an eine durchlässige Darmbarriere. «Empirische Daten», schreibt die amerikanische Ärztin Susan Blum, «lassen vermuten, dass alle Menschen mit einer Autoimmunerkrankung ein Leaky-Gut-Syndrom haben.»2
Diese Vermutung ist streng wissenschaftlich ebenso wenig erhärtet wie die Hypothese, dass ein Leaky-Gut-Syndrom Autoimmunerkrankungen auslöse, verursache oder verschlimmere. Trotzdem lässt aufhorchen, dass nicht nur Antibiotika, sondern auch gewisse Rheumamedikamente der Darmschleimhaut und der Darmflora erheblichen Schaden zufügen können. Unzweifelhaft gilt dies für NSAR, nicht-steroidale Antirheumatika mit den Wirkstoffen Ibuprofen, Diclofenac, Indometacin usw. Zu ihren häufigsten Nebenwirkungen zählen Blutungen und Geschwüre im Magen und Dünndarm.
Unter der Annahme, dass Autoimmunerkrankungen eng mit einem Leaky-Gut-Syndrom zusammenhängen, postuliert die funktionelle oder biologische Medizin die Möglichkeit, über eine Leaky-Gut-Therapie auch die damit zusammenhängende Erkrankung zu therapieren. Sie verfolgt die doppelte Strategie, einerseits alle möglichen Leaky-Gut-Auslöser aus der Ernährung zu eliminieren und andererseits die geschädigten Darmwände zu regenerieren und die Darmflora wieder in eine gesunde Balance zu bringen.
Eine Leaky-Gut-Therapie tut damit genau das, wovor viele Mediziner und Ernährungsberater gerade RA-Betroffene warnen: ganze Gruppen von Nahrungsmitteln wegzulassen, weil das Risiko einer Unterversorgung mit wichtigen Nährstoffen drohe.3 Zur Klärung dieses Einwurfes sei beispielhaft auf zwei Eliminationsdiäten kurz eingegangen.
Die Eliminationsdiät nach Dr. Susan Blum
Dr. med. Susan Blum empfiehlt Patienten mit einer Autoimmunerkrankung, mit einem dreiwöchigen Ausschluss folgender Nahrungsmittel bzw. Nährstoffe anzufangen:
- Gluten
- Milch und Milchprodukte
- Mais
- Soja
Gluten führt nicht zufällig die Liste an. Es ist ein Protein (Eiweiss), das in Weizen und (mit Ausnahme der Hirse) in sämtlichen Getreiden vorkommt, in Gerste, Roggen, Dinkel und Hafer genauso wie in den alten Weizensorten Emmer und Einkorn. Gluten und Weizen werden vielfach ohne wissenschaftliche Grundlage verteufelt, unbestritten ist aber, dass die Züchtung des Weizens seit Mitte des 20. Jahrhunderts dessen Gehalt an Gluten vervielfacht hat und dass wir in Brot, Teigwaren und Fertigprodukten wie Saucen, Suppen und Müesli täglich hochkonzentriertes Gluten zu uns nehmen.
Genau genommen, ist Gluten ein Gemisch verschiedener Proteine wie hauptsächlich Gliadin und Glutenin. Proteine wiederum bestehen aus Aminosäuren. Das besondere Problem von Gluten soll darin bestehen, dass seine Aminosäuremuster den Mustern mancher Körpergewebe zum Verwechseln ähneln. Die Entzündungsstoffe, die die im Blut zirkulierenden Abwehrzellen beim Zusammentreffen mit unvollständig verdautem Gluten freisetzen, attackieren deswegen auch körpereigenes Gewebe, namentlich Gewebe des Dünndarms, der Schilddrüse und der Gelenke. Dies ist eine mögliche Theorie zur Erklärung, wie Autoimmunerkrankungen entstehen und warum sie gegenwärtig um sich greifen.
Der zweite Schritt der Blum’schen Eliminationsdiät besteht darin, Gluten, Milch und Milchprodukte, Mais sowie Soja einzeln und nacheinander wieder zu sich zu nehmen und in dieser Testphase genau darauf zu achten, ob sie Kopfschmerzen, Benommenheit, Müdigkeit, Durchfall oder Ausschläge hervorrufen. Nahrungsmittel, die derartige Unverträglichkeitsreaktionen zur Folge haben, sind dann für ein halbes Jahr gänzlich zu meiden. Diese Spanne veranschlagt Susan Blum für eine Leaky-Gut-Heilung.

Aus ihrer Erfahrung stellen allerdings Weizen und Gluten häufig ein Dauerproblem dar. Sie empfiehlt Personen mit einer Autoimmunerkrankung, Gluten generell und für immer zu meiden, selbst wenn sich in der Testphase keine negativen Reaktionen darauf gezeigt haben.
Alles in allem verlangt Susan Blum eine konsequente Umstellung auf eine antientzündliche Ernährung mit reichlich sekundären Pflanzenstoffen, Antioxidantien und Mikronährstoffen, unter besonderer Beachtung eines niedrigen Blutzuckerspiegels. Sie propagiert einen ausgewogenen Speisezettel mit viel Obst und Gemüse sowie gesunden Fetten (Omega-3 und Omega-6), speziell Fischöl. Sie empfiehlt eine zuckerarme Ernährung und Transfette sowie gesättigte tierische Fette aus Rindfleisch und Milchprodukten zu meiden.
Sämtliche Ernährungsempfehlen integriert Susan Blum in ein «4-Schritte-Programm für ein gesundes Immunsystem» (so der Untertitel ihres Werkes). Das vollständige Behandlungsprogramm umfasst Verhaltensänderungen zum Stressabbau sowie Ernährungs- und weitere Massnahmen zur Darmsanierung und zur Leberentgiftung. Die therapeutische Wirkung ihrer Anti-Entzündungsernährung belegt sie mit teils ausführlichen Erfahrungsberichten und Fallbeispielen aus der eigenen ärztlichen Praxis.
Die Eliminationsdiät nach Dr. Jean Seignalet
Die Annahme, dass unzählige Krankheiten ursächlich mit der Ernährung zusammenhängen und deswegen über eine Ernährungsumstellung therapierbar seien, teilt auch die hypotoxische Ernährung. Sie wurde von Dr. med. Jean Seignalet, einem französischen Allgemeinmediziner und Immunologen, entwickelt und hat vor allem in der Frankophonie viele Anhänger, aber auch Gegner.4
Seignalet rückt (wie Blum) das Leaky-Gut-Problem ins Zentrum. Moleküle aus unvollständig aufgespaltener Nahrung, von krankheitserregenden Bakterien und Abfallstoffen sollen durch die durchlässige Darmbarriere in den Blutkreislauf gelangen und vielerlei Krankheiten verursachen, denen eine hypotoxische Ernährung den Riegel schieben könne.
Sie ermögliche es dem Darm, sich zu regenerieren und schädigende oder belastende Stoffe abzubauen respektive auszuscheiden. Um die Zufuhr von Toxinen (vergiftenden Stoffen) unter (griechisch: hypo) ein gewisses Niveau zu senken (daher «hypo-toxisch»), empfiehlt die Seignalet-Diät, die folgenden Nahrungsmittel komplett und dauerhaft vom Speisezettel zu streichen:
- Milch und Milchprodukte
- Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Kamut, Dinkel
- Mais
- Wurstwaren
- Industriezucker (erlaubt sind Vollrohrzucker, Honig, Kokosblütenzucker)
- Öle und Nüsse, die über 42 °C erhitzt wurden
- alle Nahrungsmittel, die über 110 °C erhitzt wurden
Seignalet begründet sein Verdikt gegen Milch, Rahm, Butter, Jogurt und Käse mit der mutmasslich weit verbreiteten Unfähigkeit Erwachsener, Casein (Milcheiweiss) und Lactose (Milchzucker) vollständig zu verdauen. Gegen Mais und Getreide führt er ins Feld, dass sie seit Jahrzehnten «überzüchtet» seien. Seine Warnung vor hohen Kochtemperaturen basiert auf der Annahme, dass sich ab 42 Grad Celsius schädliche Proteine und ab 110 Grad Celsius Toxine (Giftstoffe) bilden.
Generell rät er zu einem hohen Anteil an Rohkost in Form von Früchten und Gemüse (70%). Auch Eier und Fleisch seien am besten roh zu geniessen. Zugelassen sind nur Zubereitungen bei niedrigen Temperaturen: Eier pochieren, Fisch bei geringer Hitze dünsten, Fleisch fermentieren oder (ohne scharfes Anbraten) niedergaren.
Seignalet hat im Laufe von zwanzig Jahren ungefähr 2500 Patienten mit unterschiedlichen Erkrankungen mit der hypotoxischen Ernährung behandelt und behauptet, durchgängig hohe Erfolgsquoten erzielt zu haben.
Die meisten Erfahrungen hat er mit der rheumatoiden Arthritis gesammelt. Er behandelte und begleitete 297 RA-Patienten über einen Zeitraum von 1 bis 13 Jahren. Die Anwendung der hypotoxischen Ernährung soll bei 82% seiner RA-Patienten eine Schmerzreduktion oder eine Remission (Rückbildung) aller Krankheitssymptome erzielt haben.
Weiter waren 122 Patienten mit Morbus Bechterew während 1 bis 9 Jahren bei Dr. Jean Seignalet in Behandlung. 95% haben auf die hypotoxische Ernährung positiv reagiert und konnten entzündungshemmende Medikamente ganz oder weitgehend absetzen. Die Symptome seien schon wenige Wochen nach der Ernährungsumstellung zurückgegangen.
Unabhängige Studien zur hypotoxischen Ernährung bzw. zur Seignalet-Diät (régime Seignalet) liegen keine vor. Es gilt weder als erwiesen, dass sie Krankheiten heilt, noch, dass sie für Patienten gefährlich ist.5
Genuss durch Weglassen

Eliminationsdiäten sind keine Fastenkuren. Eliminieren heisst, gewisse problematische Nahrungsmittel durch gesundheitsfördernde Alternativen zu ersetzen – und dabei neue kulinarische Genüsse zu entdecken. Gerade wenn der Konsum von Fleisch und Eiern (Lieferanten tierischen Proteins) eingeschränkt wird, sind pflanzliche Eiweissquellen umso wichtiger.6
Bei gleichzeitiger Glutensensitivität oder -intoleranz empfehlen sich von Natur aus glutenfreie Alternativen zum Weizen. Sie übertreffen diesen sowohl bezüglich Eiweissgehalt wie an Mineralstoffreichtum. Das gilt für die Hirse (reich an Silizium, Eisen und Vitamin B6) genauso wie für die sog. Pseudogetreide Amarant, Buchweizen, Hanfsamen, Quinoa und Teff (Zwerghirse). Personen mit entzündlichem Rheuma können gerade aus solchen alternativen Genüssen nur einen Vorteil ziehen, denn sie haben aufgrund der Entzündungen einen erhöhten Eiweissbedarf (es sei denn, sie kompensieren diesen Mehrbedarf durch geringe körperliche Bewegung).7
Viele Erfahrungen, wenige Beweise
Wie steht es um die wissenschaftliche Einschätzung von Eliminationsdiäten? Als bahnbrechend gilt eine kontrollierte Doppelblindstudie von Darlington/Ramsey aus den 80er Jahren.8 Die sechswöchige Ausschlussdiät erzielte eine signifikante Verbesserung der Gelenkschmerzen gegenüber der Kontrollgruppe. Weitere Studien belegen hingegen nur subjektive Besserungen oder gar keine Effekte.9
Anmerkungen
- M.D. Smith, R.A. Gibson, P.M. Brooks: «Abnormal bowel permeability in ankylosing spondylitis and rheumatoid arthritis», The Journal of rheumatology 2 (1985): 299-305.
- Dr. Susan Blum: Autoimmunerkrankungen erfolgreich behandeln. Das 4-Schritte-Prgogramm für ein gesundes Immunsystem, Kirchzarten bei Freiburg, 2015, S. 73.
- So schreibt die dipl. Ernährungsberaterin Christina Alder in einer Publikation der Rheumaliga Schweiz: «Lebensmittelunverträglichkeiten sind bei Rheumabetroffenen relativ häufig. Von einem vorbeugenden Meiden ganzer Lebensmittelgruppen (zum Beispiel Milch oder Getreide) ist abzuraten, da sonst eine Unterversorgung einzelner Nährstoffe entstehen kann.» (Christina Alder: Ernährung, Zürich 2011, S. 10)
- Jean Seignalet: L’alimentation ou la troisième médecine, Monaco 2012. Gute zusammenfassende Darstellungen der hypotoxischen Ernährung bieten die Website JeMangeMieux sowie die Website des deutschen Heilpraktikers Christian Köller.
- (Nickname) fabien: «Jean Seignalet, génie ou charlatan?», Blogeintrag 2007. «Il n’existe à ce jour aucune étude sérieuse démontrant la pertinence ou la dangerosité du régime Seignalet.»
- «Ernährung und entzündliche Erkrankungen», Merkblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung SGE, 2011, (PDF), S. 3.
- Dr. Giorgio Tamborini, Dr. Raphael Micheroli: «Ernährung bei entzündlich-rheumatischen Krankheiten», info, Zeitschrift der Schweizerischen Polyarthritiker-Vereinigung, Nr. 141, Oktober 2016, S. 6.
- L.G. Darlington, N.W. Ramsey, J.R. Mansfield: «Placebo-controlled, blind study on dietary manipulation therapy in rheumatoid arthritis», Lancet 1986; 1: 236-238
- P.E. Ballmer/A. Uster et al.: «Ist mediterrane Ernährung wirksam zur Prävention und Behandlung der rheumatoiden Arthritis?», Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 2013/1, S. 11-15, hier S. 14.

Empfehlungen der Rheumaliga Schweiz
- Eine ausgewogene Ernährung gehört wie die Bewegung und die Entspannung zu den Grundpfeilern einer gesunden Lebensweise.
- Wenn Sie eine Ernährungsumstellung beabsichtigen, informieren Sie sich umsichtig.
- Reden Sie mit Ihrem Hausarzt oder Rheumatologen über eine geplante Ernährungsumstellung.
Stichworte
- Ausschlussdiät
- elimination diet
- Eliminationsdiät
- Gluten
- Morbus Bechterew
- rheumatoide Arthritis
- Rohkost
- Weizen