Fünf neuere Einsichten zur Arthrose

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Symbolbild Arthrose Einsichten

1. Abkehr vom Gelenkverschleiss

Die gängige Auffassung sieht die Arthrose im Zeichen des Gelenkverschleisses. Man erkranke an einer Arthrose, wenn sich der Knorpel im Gelenk durch mechanische Über- oder Fehlbelastung abnütze, abreibe, abschleife. Als Folge des Knorpelabriebs wuchere und verforme sich das Knochengewebe, entzünde sich das Gelenk und entwickle sich der Arthrose-Schmerz.

Die Verschleiss-Theorie packt die Entstehung und das Wesen der Arthrose in eine einfache Geschichte. Sie ist als ein «Narrativ» in allen Köpfen. Aber trifft sie auch zu?

Auf diese Frage kommt aus der aktuellen Arthroseforschung ein deutliches Nein. Verschleiss als Deutungsmodell ist passé. [1] Manche verwenden den Begriff nur noch in Anführungszeichen, wie um sich von einer schlimmen Simplifizierung zu distanzieren. [2]

Andere bringen rhetorisches Geschütz in Stellung. So Thomas Pap, Arthroseforscher am Institut für Experimentelle Muskuloskelettale Medizin der Uni Münster. Pap argumentiert in Analogie zur Demenz. So wenig man Alzheimer bekomme, weil man zu viel denke, so wenig bekomme man Arthrose, weil man sich ausgiebig bewege und die Gelenke belaste. Weder Gehirn noch Gelenk würden sich durch Nutzung abnutzen. [3]

Kann es sein, dass Generationen von Rheumatologen die Arthrose fehlgedeutet haben? Schwer zu glauben. Abnützungserscheinungen an Gelenken sind unleugbar. Es gibt Belege für den Knorpelabrieb, man sieht die Spuren von Knorpelabschliff. Trotzdem mehren sich Anzeichen und Argumente dafür, dass die Anhänger der klassischen Verschleiss-Theorie das Phänomen Arthrose zu sehr vereinfachen, es auf grobe Mechanik reduzieren und in Erklärungsnotstände geraten: Zeichen eines überfälligen Paradigmenwechsels.

[1]«Osteoarthritis is often thought of as a degenerative condition, but does not arise just because of gradual wear and tear.» («Oft denkt man bei der Arthrose an ein degeneratives Leiden, aber sie entsteht nicht einfach aufgrund allmählichen Verschleisses.») Rannou, Francois: «Pathophysiology of osteoarthritis», in: Atlas of Osteoarthritis, published in partnership with the European Society for Clinical and Economic Aspects of Osteoporosis, Osteoarthritis and Musculoskeletal Diseases (ESCEO), 2. Auflage. London: Springer Healthcare; 2018, S. 34-51, siehe S. 36.

[2] «Notre compréhension des processus physiopathologiques menant à l’arthrose s’est profondément modifiée. D’une maladie ‹d’usure›, consécutive à l’abrasion d’un cartilage considéré comme un materiau inerte, nous sommes passés à une maladie dégénérative multi-tissulaire, mettant en jeu des mécanismes cellulaires, enzymatiques et inflammatoires complexes.» («Unser Verständnis des physiopathologischen Prozesses, der zur Arthrose führt, hat sich gründlich gewandelt. Von einer ‹Verschleisserkrankung› infolge Abriebs eines Knorpels, den man wie ein lebloses Material begriff, sind wir übergegangen zu einer degenerativen Multigewebserkrankung mit komplexen zellulären, enzymatischen und entzündlichen Mechanismen.») Selam, Jérémie: «De l’arthrose aux arthroses: une nouvelle vision physiopathologique. L’arthrose est une vraie maladie métabolique», in: De l’arthrose aux arthroses. Les colloques de L’Institut Servier. Paris: Springer Science; 2016, S. 18-27, siehe S. 25.

[3] Die Wissenschaftsjournalistin Sigrun Damas zitiert Prof. Thomas Pap folgendermassen: «Niemand würde auf die Idee kommen zu sagen, dass vom vielen Nachdenken das Gehirn verschleisst. Während beim Gelenk jeder sagt: Naja, das Alter, dann verschleisst halt der Knorpel. So einfach ist es nicht.» NDR: Forscher wollen die Arthrose von innen heilen. Abrufbar unter diesem Link. – «Das Gehirn verschleisst nicht. Und genauso verschleisst der Knorpel nicht, wenn man das Gelenk viel benutzt.»

2. Unstimmigkeiten der Verschleiss-Theorie

Verschleiss folgt einer linearen Logik. Stete Abnützungseinheiten summieren sich wie die sprichwörtlichen Tropfen, die den Stein höhlen. Doch die Realität sieht anders aus. Arthrosen zeigen launische, keine linearen Verläufe. Sie verlaufen schubweise und unvorhersehbar. Zwar geben die Lehrbücher dem Krankheitsverlauf vier klassische Phasen vor:

  • stumme Arthrose (symptomfrei)
  • manifeste Arthrose (Anlauf-, Ermüdungs-, Belastungsschmerzen)
  • aktivierte Arthrose (Entzündungen)
  • dekompensierte Arthrose (Dauerschmerzen)

Aber faktisch verlaufen Arthrosen individuell sehr unterschiedlich. Sogar nach einer Phase heftiger Verschlimmerung kann sich eine Arthrose wieder vollkommen beruhigen.

Pneus

Unstimmig ist auch die Auffassung, ein Gelenk verschleisse irreversibel und irreparabel (unumkehrbar und unheilbar). Offenkundig steht die Welt der Technik Pate, wenn man davon ausgeht, dass sich ein menschliches Gelenk abnutze wie der millionenfach bewegte Greifarm eines Roboters, wie das Radlager eines Fahrwerks oder das Profil eines Pneus nach so und so vielen gefahrenen Kilometern.

Der menschliche Körper ist keine Maschine, sondern ein biologisches System. Sein Gewebe ist prinzipiell fähig, sich zu erneuern. Unter günstigen Bedingungen vermag der von Arthrose angegriffene Knorpel nachzuwachsen. [4] Es mag im Einzelfall schwierig sein, günstige Bedingungen herzustellen. Aber wenn sie bestehen, kommt die Knorpelregeneration in Gang. Andernfalls wären moderne Therapien wie die Knorpeltransplantation [5] oder die Gelenkdistraktion [6] unsinnige Unterfangen.

Die millimeterdünne Knorpelfläche erscheint in Mensch-Maschinen-Analogien als eine Schwachstelledes Bewegungsapparates. Doch dem widersprechen die biologischen Tatsachen. Die Evolution schuf im Gelenkknorpel kein Verschleissteil, sondern ein Meisterwerk. Gelenkknorpel ist gleichzeitig steif, elastisch und praktisch reibungsfrei. Es gibt keinen industriell herstellbaren Werkstoff, der diese drei Eigenschaften in vergleichbarer Weise vereinigen würde. Der Reibungskoeffizient von Knorpel auf Knorpel beträgt nur winzige 0,02 bis 0,002. Das ist ein sehr geringer Wert im Vergleich zum Reibungskoeffizienten von Stahl auf Stahl (0,6), von Messing auf Stahl (0,3) oder von Teflon auf Stahl (0,2). [7]

Man erklärt die Reibungsfreiheit häufig damit, dass die Gelenkflüssigkeit (Synovia) den Knorpel schmiere. Doch es gibt noch eine andere Erklärung, basierend auf dem enormen Wassergehalt von Knorpelgewebe. Die oberflächliche Zone des Knorpels sei zum Bersten voll («überhydratisiert»). Gelenkbelastung drücke dieses Wasser aus dem Knorpel heraus. So bilde sich ein Flüssigkeitsfilm, auf dem die beiden Knorpelflächen dahingleiten, ohne einander zu berühren. [8]

Was geschieht bei einer Arthrose auf der Ebene der Zellen und der Moleküle? Die modernen Schilderungen der Pathophysiologie der Arthrose entwerfen ein komplexes Szenario von einerseits zerstörerischen und andererseits produktiven, kompensierenden, reparierenden Prozessen. So beschreibt Prof. Vladimir Martinek ein Drama in drei Akten: [9]

  1. Anfangs zerbreche die Knorpelkeimzone (Matrix) und nehme das kollagene Netzwerk Schaden. (Die Matrix besteht aus Wasser und einem Netzwerk von Makromolekülen, die dem Knorpel seine Form und seine Eigenschaften geben, darunter Kollagene und zahlreiche andere.)
  2. Auf diese Schädigungen reagieren die Knorpelzellen (Chondrozyten) mit einer bis zu fünffachen Matrix- und Kollagenproduktion. Dieses zweite Stadium ziehe sich mitunter über Jahre hin. Dabei vermehren sich die Knorpelzellen wild durcheinander und bilden Zellhaufen. Gleichzeitig destabilisiere sich das kollagene Netzwerk.
  3. Schliesslich versagen die Knorpelzellen. Das Knorpelgewebe baue sich ab und gehe verloren, mit Begleitreaktionen im darunterliegenden Knochen.

Was die Verschleiss-Theorie zu einem einseitgen Abnützungsvorgang vereinfacht, zeigt sich auf Zellebene als ein komplexes und dramatisches Geschehen, bei dem degenerative über regenerative Prozesse die Oberhand gewinnen – mit der Nettobilanz eines Verlusts von Knorpelgewebe. [10]

[4] So schreibt Dr. Lukas Wildi: «Lange Zeit galt der Knorpelverlust, das Hauptmerkmal der Arthrose, als unwiderruflich. Neue wie ältere therapeutische Ansätze beweisen aber zusehends, dass sich der Knorpel im Arthrosegelenk nachhaltig und funktionell zu regenerieren vermag, wenn ihm das optimale Umfeld geboten wird.» Wildi, Lukas: «Grundlegendes zu Arthroseschmerzen», in: Der informierte Arzt. 2016, S. 29-31, siehe S. 30.

[5] Die Knorpeltransplantation funktioniert bei begrenzten Knorpelschäden im Kniegelenk. Dazu wird eine kleine Menge Knorpelgewebe entnommen und im Labor vermehrt. Das nachgewachsene Gewebe kann nach sechs Wochen in die defekte Stelle injiziert werden und wächst mit dem übrigen Knorpelgewebe zusammen.

[6] Die Gelenkdistraktion ist eine Holland entwickelte Therapieform. Dabei spreizen externe Fixateure das Kniegelenk und schaffen auf diese Weise Raum für die Knorpelregeneration. Die Holländer können verblüffende Heilungserfolge vorweisen.

[7] Martinek, Vladimir: «Anatomie und Pathophysiologie des hyalinen Knorpels», in: Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin. 2003;54(6):166-70, siehe S. 166/167.

[8] Filler TJ, Peuker ET. Morphologie und Funktion der Gelenke. Management der Arthrose. Innovative Therapiekonzepte. 1. Auflage Köln: Deutscher Ärzte-Verlag; 2010, S. 5-20. Die Autoren schreiben auf Seite 15/16: «Das Geheimnis der geringen Reibung der Gelenkflächen bei Bewegung besteht darin, dass sie sich nie berühren. Die Knorpeloberflächen schwitzen gewissermassen Wasser aus dem überhydratisierten Knorpel aus. Dies geschieht genau an den Kontaktflächen. Bei Druckentlastung wird diese Flüssigkeit weitgehend wieder osmotisch in den Knorpel zurückgezogen. Der Flüssigkeitsfilm zwischen den gerade gelenkenden Knorpelflächen stammt also aus dem Knorpel.»

[9] Martinek, Vladimir: «Anatomie und Pathophysiologie des hyalinen Knorpels», in: Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin. 2003;54(6):166-70, siehe S. 169/170. Die Publikation ist zwar schon eine Weile her, doch neuere Darstellungen widersprechen dem nicht, sondern verfeinern das Szenario.

[10] «Die Arthrose stellt keine isolierte Krankheitsentität dar; sie kann als Störung definiert werden, bei der das Gleichgewicht zwischen Abbau und Synthese innerhalb des Gelenkknorpels und [des] subchondralen Knochens gestört ist. Man muss sie also nicht als einen rein degenerativen Prozess, sondern vielmehr als [einen] frustran reparartiven Prozess ansehen.» Leeb, Burkhard: «Arthrose der grossen Gelenke». Fachreferat anlässlich der Saalfeldener Fortbildung der Österreichischen Apothekerkammer, gehalten am 09.03.2006. Abrufbar unter diesem Link.

3. Der entzündliche Unterbau einer Arthrose

Arthroseforscher vermuten das Grund- und Anfangsproblem der Arthrose in milden, chronischen Entzündungen niedriges Grades (low-grade inflammations) und sprechen davon, dass die Arthrose einen entzündlichen Unterbau (inflammatory underpinnings) habe. Verantwortlich für diese milden Entzündungen sei vorrangig die angeborene Immunabwehr, wohingegen die hochgradigen Entzündungen einer Arthritis vom erworbenen (spezifischen, adaptiven) Immunsystem herrühren. [11]

Das ist ein neuer Gedanke. Üblicherweise sieht man die Entzündungen bei einer Arthrose als Folge oder Begleiterscheinung des Knorpelabbaus, wie namentlich die häufige Gelenkinnenhautentzündung. Oder man denke an die periodischen Entzündungsschübe, die sich im späteren Verlauf einer Arthrose einstellen, in Phasen einer «aktivierten» Arthrose.

Als hätte sie es seit Jahrhunderten vorausgeahnt, nennt die englischsprachige Medizin die Arthrose osteoarthritis (abgekürzt: OA), mit der Endung -itis für «Entzündung». [12] Trotzdem zählt man die Arthrose nicht zu den entzündlich-rheumatischen Erkrankungen.

Forscher hoffen, medikamentöse Therapien zu entwickeln, die das milde, niedergradigen Entzündungsgeschehen einer Arthrose im Keim ersticken. Doch noch weiss man sehr wenig über diese Entzündungen und in welcher Beziehung sie zum mechanischen Stress stehen, ob sie diesem vorausgehen oder folgen. [13]

[11] «The inflammation in OA is distinct from that in rheumatoid arthritis and other autoimmune diseases: it is chronic, comparatively low-grade, and mediated primarily by the innate immune system.» («Die Entzündung bei einer Arthrose unterscheidet sich von der bei einer rheumatoiden Arthritis oder anderen Autoimmunerkrankung: Sie ist chronisch, vergleichsweise niedergradig und primär durch das angeborene Immunsystem vermittelt.») Robinson WH, Lepus CM, Wang Q, Raghu H, Mao R, Lindstrom TM, Sokolove J. Low-grade inflammation as a key mediator of the pathogenesis of osteoarthritis. Nat Rev Rheumatol. 2016 Oct;12(10)580-592, siehe das Abstract. Abrufbar unter diesem Link.

[12] Der deutsche Fachbegriff «Osteoarthritis» hingegen bezeichnet eine vom Knochen auf ein Gelenk übergreifend Entzündung.

[13] Übrigens vermuten traditionelle Heilsysteme schon seit Menschengedenken Entzündungsvorgänge an der Wurzel der Arthrose. So schreibt Dr. Hanspeter Braun in seiner Einführung in die Traditionelle Chinesische Medizin: «Es gibt keine Krankheit, bei der nicht das Immunsystem einen ‹Fehler› macht. Das gilt nicht nur für die Infektionskrankheiten, sondern ist ganz allgemein so. Auch eine Arthrose (...) entsteht über immunitäre Mechanismen.» Braun, Hanspeter und Madörin, Bernhard: Wärme, Schärfe und Gesundheit. Ein Gespräch zwischen Arzt und Patienten als Einführung in die Traditionelle Chinesische Medizin. 1. Auflage. Bern: Simowa Verlag; 2009, siehe S. 14, ebenso die Aufzählung auf S. 82.

4. Offene Fragen

Warum erkranken so viele Menschen an Arthrosen und warum nehmen die Fälle zu? Aus welchen Anlässen und Ursachen entstehen Arthrosen und wie entwickeln sie sich in ihren Anfängen?

Fragen nach der Ursache (Ätiologie) und der Entstehung (Pathogenese) bringen die Rheumatologie noch immer in Verlegenheit, wo sie eine Arthrose nicht auf eine andere gesundheitliche Störung oder Erkrankung, auf ein Ereignis wie einen Unfall, eine Sportverletzung oder eine Operation, eine Gelenkverformung, eine angeborene oder eine erworbene Fehlstellung (wie X- oder O-Beine) oder eine sonstige Fehlbildung zurückführen kann.

Während sich auf diese Weise viele Arthrosen als sekundäre Erkrankungen erklären lassen, bilden die primären Arthrose [14] nach wie vor ein Rätsel. Allgemein wird von einem multifaktoriellen Entstehungsprozess ausgegangen, also einem Knäuel ursächlicher Faktoren, Auslöser und Einflüsse. Gegenwärtig vermag niemand diesen Ursachenknäuel zu entwirren.

Chondrozyten

Allerdings macht es das Knorpelgewebe der zellbiologischen und immunologischen Forschung auch nicht einfach. Die Knorpelzellen (Chondrozyten) sind schwer zugänglich und lassen sich nur mit grossem Aufwand isolieren und im Labor vermehren. Sie sind in den verschiedenen Schichten des Gelenkknorpels in sehr unterschiedlicher Anordnung anzutreffen und unterscheiden sich in ihrem Stoffwechsel. Man weiss, dass Knorpelzellen hochdifferenzierte Zellen sind, die elastische und kollagene Fasern und die extrazelluläre Matrix produzieren. Aber man weiss nicht, ob sie alle ein und denselben Zelltyp repräsentieren (wovon man gemeinhin ausgeht) oder verschiedene Subtypen. [15]

[14] Zu den primären Arthrosen zählen alle drei häufigsten Arthrosen: die Kniearthrose, die Hüftarthrose und die Arthrose der Fingerendgelenke und der Fingermittelgelenke. Weitere primäre Arthrosen sind die Arthrose im Damensattelgelenk (Rhizarthrose), die Arthrose der Halswirbelsäule, der Lendenwirbelsäule sowie die Arthrose des Grosszehengrundgelenkes (das häufig auch von der Gicht betroffen wird).

[15] Deutsches Rheuma-Forschungszentrum (DRFZ): Pitzer-Labor Arthroseforschung. Neue Impulse für eine biologische Regeneration von Arthrose-Gelenken.

5. Alter und Arthrose: kein fataler Zusammenhang

Je älter Sie werden, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie an einer Arthrose erkranken. Die primäre Arthrose ist eindeutig eine altersassoziierte Erkrankung. «Altersassoziiert» heisst aber nicht «altersbedingt». Dass ein gesundheitliches Problem im Alter auftritt, muss keineswegs bedeuten, dass es wegen des Alters auftritt. [16] Zufolge allem, was wir heute über die primäre Arthrose wissen, darf man von der Gleichzeitigkeit von Alter und Arthrose nicht auf einen Ursache-Wirkungszusammenhang schliessen.

Selbst im hohen Alter vermag der Gelenkknorpel seine stabile Form zu wahren und hohen Druck- und Zugbelastungen zu widerstehen. Zwar nimmt die Zahl der Knorpelzellen im Laufe des Lebens ab. Sie verlangsamen ihren Stoffwechsel. Sie werden für Wachstumsfaktoren weniger empfänglich. Sie produzieren kleinere Proteoglykane. Das sind Proteine, die für die chemische und mechanische Bindung des Wassers sorgen. Deswegen nimmt der Wassergehalt des Gelenkknorpels im Alter ab und erhöht sich die Konzentration der Stoffwechselabfälle. Doch dies sind alles normale Alterungsprozesse, die sich von der komplexen Choreographie einer Arthrose deutlich unterscheiden. [17]

Seniorenpaar im Park

Eine Arthrose ist weder Teil des normalen noch Ausdruck eines vorzeitigen Alterungsprozesses. Das Alter allein verursacht keine Arthrose und löst eine solche auch nicht aus. [18]

Diese Einsichten der modernen Arthroseforschung sind eine gute Nachricht. Sie überwinden den Fatalismus der klassischen Verschleiss-Theorie, der zufolge sich Gelenke zwangsläufig abnützen.

Arthrose ist kein unabwendbares Schicksal. Auch in reifen Jahren ist es sinnvoll, sich mit einem gesunden Lebenswandel, regelmässiger Bewegung und einer nährstoffreichen Ernährung gegen die Arthrose zu wappnen.

[16] Darauf macht der unabhängige Schmerzforscher Roland Liebscher-Bracht aufmerksam: «Unserer Erfahrung nach kommt es im Bereich der herkömmlichen Medizin und Naturheilkunde immer wieder zu irrtümlichen Annahmen, weil Zustände, die gleichzeitig (simultan) auftreten, als ursächlich voneinander abhängig (kausal) interpretiert werden.» Liebscher-Bracht, Roland und Bracht, Petra: Die Arthroselüge. Warum die meisten Menschen völlig umsonst leiden – und was Sie dagegen tun können. 1. Auflage. München: Goldmann Verlag; 2017, siehe S. 35.

[17] «Wie jedes andere Gewebe kommt es auch im hyalinen Knorpel im Verlauf der Zeit zu morphologisch und funktionell fassbaren Veränderungen, die sich dennoch wesentlich von den pathologischen Zuständen unterscheiden.» Martinek, Vladimir: «Anatomie und Pathophysiologie des hyalinen Knorpels», in: Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin. 2003;54(6):166-70, siehe S. 169.

[18] «While ageing per se is not viewed as the initiating factor for the development of osteoarthritis, age-related changes within the chondrocyte, such as cellular senescence and a reduced responsiveness to growth factors, as well as external factors such as the accumulation of advanced glycation end products and oxidative stress, may combine to disrupt cartilage homeostasis (…). These changes make the cartilage matrix more vulnerable to damage and lead to the onset of osteoarthritis (…).» («Während das Altern per se nicht als ein Auslöser für die Entwicklung einer Arthrose angesehen werden kann, können altersbezogene Veränderungen in den Chondrozyten wie die Zellalterung und eine verminderte Empfänglichkeit für Wachstumsfaktoren ebenso wie äussere Faktoren wie etwa die Anhäufung von Endprodukten fortgeschrittener Glykierung und oxidativer Stress gemeinsam dazu führen, die Homöostase des Knorpels zu stören. Diese Veränderungen machen die Knorpelmatrix schadensanfälliger und führen zum Ausbruch einer Arthrose.») Rannou, Francois: «Pathophysiology of osteoarthritis», in: Atlas of Osteoarthritis, published in partnership with the European Society for Clinical and Economic Aspects of Osteoporosis, Osteoarthritis and Musculoskeletal Diseases (ESCEO), 2. Auflage. London: Springer Healthcare; 2018, S. 34-51, siehe S. 46.

Review: Dr. med. Lukas Wildi, Kantonsspital Winterthur
Publikation: 27. August 2018

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