Lebenskunst im Ausnahmezustand

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Benjamin und eine seiner Katzen.

Benjamin erhält früh eine lebensverändernde Diagnose, doch anstatt sich zurückzuziehen, wählt er Selbstbestimmung und Aktivität. Heute nutzt er seine Erfahrung, um andere zu inspirieren und zeigt, wie er seine Krankheit als Ausgangspunkt für Wirkung und Sinn begreift.

Schon früh erkennt Benjamin als Pflegefachmann in Ausbildung, dass sein Reizhusten mehr ist als eine Erkältung. Er organisiert ein Blutbild, das alarmierende Rheumawerte zeigt. Er ist 23 Jahre alt, als er die Diagnose Systemische Sklerose mit Lungenfibrose erhält. Die Welt steht für einen Moment still. Die seltene Autoimmunerkrankung führt zu Verhärtungen von Haut und Organen. Ist die Lunge betroffen, spricht man von einer Lungenfibrose: Das Gewebe vernarbt, das Atmen fällt schwer.

Der Hausarzt zögert, Benjamin weist sich selbst ins Inselspital Bern ein. Dort wird die Diagnose bestätigt: Typ D der systemischen Sklerose. Benjamins Fibrose ist besonders aggressiv: Wenn der initiale Schub der Fibrosierung nicht gebremst werden kann, liegen seine Überlebenschancen bei null und selbst danach für die ersten fünf Jahre nur bei knapp 44%. „Ich hatte das Gefühl, ich falle in ein Loch“, erinnert sich Benjamin. Doch er entscheidet: „Ich will nicht nur überleben, ich will leben."

Ein Leben in Ungewissheit

Das erste Jahr nach der Diagnose ist von unzähligen Spitalaufenthalten und Untersuchungen gekennzeichnet. Wie viele genau, weiss Benjamin selbst nicht mehr. Im Gedächtnis geblieben ist ihm aber die Organisation des grossen Geburtstagsfestes für seinen Vater im gleichen Jahr. «Ich habe vom Spitalbett aus organisiert und meine Rede für die Feier geschrieben», erinnert er sich.

Das Wissen darüber, was passiert, wenn der erste Schub der Fibrosierung seines Lungengewebes nicht gestoppt werden kann, hängt wie ein Damoklesschwert über ihm. Benjamin und seine Frau sind damals beide erst Anfang zwanzig, aber es bleibt ihnen keine andere Wahl, als sich mit dem Ernstfall auseinandersetzen.

Benjamin im Freien.
Benjamin blickt trotz seiner Terminaldiagnose mit Zuversicht in die Zukunft.

Der Prognose und allen Erwartungen zum Trotz überlebt Benjamin das erste Jahr und den ersten Schub. Doch damit ist sein Weg mit der Erkrankung erst richtig losgegangen: «Ich habe mir gesagt: Ich bin keine Krankheit mit zwei Beinen, sondern ein Mensch, der eine Krankheit hat.» Dieser Satz ist für Benjamin ein Schutzschild gegen die Reduktion auf Symptome, gegen die Entmenschlichung im medizinischen Alltag.

Die darauffolgenden Jahre sind geprägt von Chemotherapie, Infusionen mit Endoxan ®, starken Schmerzen und einem Alltag geprägt von Einschränkungen. Seine Lunge verliert an Funktion, bei Anstrengung kämpft Benjamin mit einer sogenannten Belastungsdyspnoe: Sobald er beispielsweise etwas trägt, das mehr als 5kg wiegt, hat er bereits nach kurzen Strecken Atemnot. Auch sein Appetit und sein Gewicht schwanken, er muss darauf achten, genug Nährstoffe aufzunehmen. Seine Arme und Finger sind nur noch eingeschränkt beweglich, da die Fibrose die Sehnen verhärten lässt. Die Fatigue wird zu seinem ständigen Begleiter.

Benjamin gewöhnt sich nach und nach an seine Einschränkungen und lehnt Schmerzmittel aus Überzeugung ab. «Ich wollte nicht, dass mein Körper sich daran gewöhnt. Ich wollte wissen, was echt ist.» Stattdessen entwickelt er eigene Strategien für den Umgang mit seinen Einschränkungen: strukturierte Tagesabläufe, bewusste Pausen, mentale Techniken sowie die technische Überwachung seines Gesundheitszustands übers Handy. «Ich habe mich so organisiert, dass es mich nicht mehr stört.»

Ich habe mir gesagt: Ich bin keine Krankheit mit zwei Beinen, sondern ein Mensch, der eine Krankheit hat.
Benjamin Lustenberger, Betroffener von systemischer Sklerose

Benjamin mit seinem Lungenmessgerät.
Benjamin mit seinem Lungenmessgerät.

Beruflich und sozialversicherungstechnisch fällt er durch alle Raster: Die Pflegeausbildung muss er aufgrund der Diagnose und dem Husten abbrechen, das Regionale Arbeitsvermittlungszentrum RAV stuft ihn als «nicht vermittelbar» ein. Doch Benjamin gibt nicht auf. Er bewirbt sich, ist transparent in Bezug auf seine Erkrankung, und findet schliesslich eine Stelle in einer kleinen Agentur. Drei Jahre später gründet er seine eigene Firma im Bereich Sales und Marketing. Heute beschäftigt er sechs Mitarbeitende, berät schweizweit Unternehmen und entwickelt digitale Vertriebsstrategien. Er arbeitet pragmatisch, direkt und menschenzentriert, denn er sagt: «Ich habe gelernt, wie man mit wenig Energie viel Wirkung erzielt.»

Benjamin im Home Office
Auch seinen Berufsalltag hat Benjamin so angepasst, dass er im Umgang mit seiner Krankheit Flexibilität bietet..

Die COVID-Pandemie wird für Benjamin zum Wendepunkt. Anstatt in der Isolation zu versinken, nutzt er die Zeit, um seine Zukunft nach der Pandemie zu planen. Gemeinsam mit seiner Frau steht er damals am Flipchart und sammelt Ideen. «Ich hatte plötzlich Raum zum Denken, und habe ihn genutzt.» Die Pandemie zeigt ihm, wie wichtig digitale Lösungen in seinem Alltag sind, wie wertvoll Flexibilität und Eigenverantwortung sein können. Er passt sein Unternehmen seiner eingeschränkten Belastbarkeit an, mithilfe von klaren Prozessen, remotefähigen Strukturen und einem Team, das ihn trägt, auch wenn er mal weniger leistungsfähig ist.

Mit seiner Frau organisiert er regelmässig Spielabende für den Freundeskreis und gründet nebenbei eine Agentur für Reisen nach Sansibar. Mit der Reiseagentur engagieren sich die beiden auch für NGO-Projekte auf der ostafrikanischen Insel. Seine Frau ist für ihn nicht nur Partnerin, sondern auch emotionale Stütze, Mitdenkerin und Lebenskomplizin. «Sie ist mein Ruhepol und mein Motor.», erklärt er. Gemeinsam adoptieren sie drei Katzen, die sich schnell als therapeutische Mitbewohner entpuppen. Benjamin strahlt: «Wenn ich nicht schlafen kann, legt sich eine von ihnen auf meine Brust. Das beruhigt mich mehr als jedes Medikament.»

Eine Stimme für sich selbst und andere

Neun Jahre nach der Diagnose steht Benjamin auf dem Gipfel des Pilatus. Über eine angepasste Route hat er von Alpnach aus über 2000 Höhenmeter mit 40%-funktionaler Lunge zurückgelegt. «Die Forschung sagt, das sei unmöglich. Aber mit mentaler Überzeugung geht es eben doch.», hält er fest. Für ihn ist das aber kein Aufruf zur Nachahmung, sondern ein Zeichen. «Ich habe aufgehört, auf Heilung zu hoffen. Stattdessen frage ich: Was kann ich heute tun? Es geht darum zu erkennen, was trotz Einschränkungen alles möglich ist.» Mit seiner radikalen Akzeptanz plant er realistisch und bleibt zugleich offen für neue Wege. «Ich bin nicht naiv.», betont er. «Aber ich bin auch nicht bereit, mich der Krankheit zu unterwerfen.»

Benjamin mit seiner Frau und einer seiner Katzen.

Heute ist Benjamin nicht nur Unternehmer, sondern auch Patientenvertreter. Er sitzt im Advisory Board eines Health-Consulting-Unternehmens, referiert auf Kongressen und berät Spitäler. «Ich habe auch schlechte Tage. Aber ich zeige, dass man trotzdem gestalten kann.» Die Liebe seiner Frau, der Zusammenhalt mit seiner Familie, die Katzen, all das trägt ihn genauso wie die Entscheidung, sich nicht auf die Krankheit zu konzentrieren, sondern auf das Leben.

«Ich feiere kleine Erfolge richtig ab.», erklärt er. «Auch wenn es nur der Gang zur Migros ist.» Benjamin lebt seine selbstgestaltete Freiheit mit Telemedizin, Mobilität und einem Netzwerk, das ihn trägt. Für ihn steht fest: Auch mit schwerer Erkrankung ist ein erfülltes Leben möglich. Nicht trotz, sondern mit der Krankheit. Und mit einer Haltung, die sagt: «Ich bin nicht fertig. Ich bin unterwegs.»

Über Benjamin

Benjamin Lustenberger ist Vorstandsmitglied der Schweizerischen Skelerodermie Vereinigung, Patient Advisor bei uma collective und Managing Partner bei tecadvance. Er ist ausserdem Inhaber und Hauptreiseleiter bei zamani voyage.

Für persönliche Rückfragen zu seinem Umgang mit seiner Erkrankung steht er gerne unterBenjamin.lustenberger@tecadvance.choder auch telefonisch unter +41 79 964 43 39 zur Verfügung.

Dieser Text wurde im Mitgliedermagazin forumR 4/2025 der Rheumaliga Schweiz publiziert.

Autorin: Vivian Decker

Fotos: Susanne Seiler

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