
Chronische Schmerzen sind vielschichtig und individuell. Neben körperlichen Ursachen beeinflussen auch Emotionen, Gedanken und das soziale Umfeld das Schmerzerleben. Man spricht von einem biopsychosozialen Modell. Deshalb braucht es bei der Behandlung der Patient*innen mit chronischen Schmerzen einen multimodalen Therapieansatz.
Im Interview erklärt die Schmerzmedizinerin Dr. med. Juliane Pfarr, warum Schmerzmittel allein selten ausreichen und wie Betroffene lernen können, ihre Schmerzen zu verstehen, aktiv zu beeinflussen und wieder Vertrauen in ihren Körper finden.
Rheumaliga Schweiz: Was sind Schmerzen?
Dr. med. Juliane Pfarr: Schmerzen sind grundsätzlich ein unangenehmes Signal des Körpers mit einer Warnfunktion und somit sehr wichtig. Die Weltschmerzorganisation (IASP = internationale Gesellschaft zur Erforschung des Schmerzens) definiert Schmerz als unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, unabhängig davon, ob eine tatsächliche oder drohende Gewebeschädigung vorliegt. Schmerz ist somit mehr als nur ein körperliches Signal.
Bei chronischen Schmerzen geht die ursprüngliche Warnfunktion des Körpers verloren. Das heisst, komplexe Mechanismen laufen im Körper ab, die Schmerzen haben sich scheinbar verselbstständigt. Sehr viel davon passiert in verschiedenen Hirnarealen. Vor Kurzem wurde die aktuelle Fassung des ICD-11, der Klassifikation aller Krankheiten, um das wichtige Kapitel «Chronischer Schmerz» erweitert. Chronische Schmerzen sind nun kein unspezifisches Symptom mehr unter vielen, sondern es kann von einer eigenständigen Krankheit gesprochen werden, was eine wichtige Anerkennung für die Beschwerden der Betroffenen ist.

Rheumaliga Schweiz: Wie werden Schmerzen wahrgenommen?
Pfarr: Schmerzen sind nicht nur ein körperliches Signal, sondern ein komplexes Zusammenspiel aus biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren. Schmerz ist also nie isoliert zu betrachten. Auf biologischer Ebene entsteht Schmerz durch eine mögliche Reizung oder Schädigung des Gewebes. Dabei werden diese Reize als Signale über die Nervenfasern ans Rückenmark und von dort schliesslich an verschiedene Orte im Gehirn weitergeleitet. Es gibt also nicht nur ein spezifisches Areal im Gehirn, das für den Schmerz verantwortlich ist.
Im Gegenteil, verschiedene Hirnanteile bewerten, verarbeiten, vergleichen mit früheren Erfahrungen. Z.B. hat die eigene frühere Erfahrung mit Schmerzen einen hohen Stellenwert. Bin ich getröstet oder mit einem ‘Ach, das wird schon wieder’ wenig ernst genommen worden? Sowohl die Gedanken und Gefühle als auch die aktuelle emotionale Verfassung und das Verhalten beeinflussen stark, wie ich den Schmerz heute erlebe.
Wenn ich gestresst, verängstigt oder gar depressiv bin, erlebe ich den Schmerz anders als eine Person, die entspannt, sozial integriert und eine positive Erwartungshaltung hat. Beispielsweise erfährt ein Patient mit einem Knochenbruch bei der Röntgenuntersuchung, dass er bereits in der Kindheit eine Fraktur erlitten habe. Erst nach längerem Studieren erinnert er sich wieder an das für ihn unbelastete Ereignis zurück. Das deutet darauf hin, dass er den damaligen Bruch emotional gut verarbeitet und nicht als schreckliches Erlebnis seines Lebens abgespeichert hat. Es geht somit weit über die reine Schmerzwahrnehmung des Körpers hinaus: Eine entscheidende Rolle spielt vielmehr das Erleben des Schmerzes. Viele verschiedene Aspekte spielen da mit rein: Wie ist meine Grundstimmung? Bin ich einsam oder werde ich von einer Gruppe gehalten und unterstützt? Welche Ressourcen habe ich und bin ich in der Lage diese anzuwenden?
Wie Menschen Schmerzen unterschiedlich erfahren, zeigt z.B. die Algometrie, also das Messen der Druckempfindlichkeit. Dazu klemmt man eine Klammer zehn Sekunden lang zuerst an eine Fingerbeere und anschliessend ans Ohrläppchen.
Dr. med. Juliane Pfarr
Wie Menschen Schmerzen unterschiedlich erfahren, zeigt z.B. die Algometrie, also das Messen der Druckempfindlichkeit. Dazu klemmt man eine Klammer zehn Sekunden lang zuerst an eine Fingerbeere und anschliessend ans Ohrläppchen. Schmerzgesunde Menschen geben dem Schmerz am Finger einen Schmerzwert NRS zwischen 1 bis 3 von 10 und am Ohr zwischen 4 und 5 von 10 an. Menschen, die bereits längere Zeit Schmerzen erleiden, reagieren meist empfindlicher auf den ausgeübten Druck der Klammer. Manche Menschen halten den Schmerzreiz am Ohr überhaupt nicht aus. Daran zeigt sich, dass sie bereits zentral sensibilisiert sind, dass also Prozesse im zentralen Nervensystem verändert sind.
Auch die regelmässige oder übermässige Einnahme von Schmerzmitteln kann dazu beitragen, dass der Körper empfindsamer wird und schmerzsensibler reagiert. Opioide können, über längere Zeit eingenommen, dazu beitragen, nicht mehr den gewünschten Effekt der Schmerzlinderung zu erzielen, sondern führen im Gegenteil dazu, dass die Schmerzen noch stärker wahrgenommen werden, was Hyperalgesie genannt wird. Die Folgen sind dann eine immer höhere Dosierung von Schmerzmitteln oder dass sie gar keinen Effekt mehr zeigen.
Rheumaliga Schweiz: Wie helfen Sie als Schmerzmedizinerin Betroffenen mit chronischen Schmerzen?
Pfarr: Wenn Menschen mit chronischen Schmerzen zu mir kommen, sind sie häufig resigniert und haben vielleicht sogar das Vertrauen in den eigenen Körper verloren. Er funktioniert nicht mehr wie gewohnt. Die Patient*innen haben eine lange Odyssee hinter sich, sind von Ärztin zu Ärztin gegangen. Oftmals sind sie verunsichert und fühlen sich nicht gehört oder ungenügend verstanden. Chronische Schmerzen sind häufig mit Einschränkungen in allen Lebenslagen verbunden: im Alltag, im Beruflichen, in der Freizeitgestaltung. Das soziale Gefüge geriet ins Wanken, die Betroffenen ziehen sich zurück und lassen für sie früher wichtige Hobbies und Interessen fallen.
Meine Rolle als Schmerzmedizinerin ist es, den betroffenen Menschen Werkzeuge an die Hand zu geben, um mit neuen oder wiederentdeckten Fähigkeiten und Fertigkeiten einen anderen Umgang mit ihren Schmerzen zu erlernen. Mir ist es wichtig, die Patient*innen wieder in die Aktion zu bringen, ihre Selbstwirksamkeit durch viele kleine Erfahrungen zu steigern, so dass sie Expert*innen für sich selbst und ihres eigenen Körpers werden.

Rheumaliga Schweiz: Welche Möglichkeiten zur Behandlung von Schmerzen gibt es?
Pfarr: Die Begleitung durch ein gut abgestimmtes interdisziplinäres Team ist für Menschen mit chronischen Schmerzen entscheidend. Die Schmerzmedizin ist dabei ein wichtiger, aber nicht alleiniger Bestandteil. Bei der ganzheitlichen Behandlung steht der Mensch im Mittelpunkt – sowohl der Mensch mit als auch der Mensch ohne Schmerzen. Ich spreche jeweils von tragenden Säulen. Eine dieser Säulen stellen Medikamente dar. Schmerzmittel haben ihren Stellenwert in der Schmerzmedizin, ebenso wie Infusionstherapien oder andere Interventionsmöglichkeiten wie z.B. Nervenblockaden.
Daneben gibt es jedoch weitere, wichtige Einflussfaktoren, die man sich genau ansehen sollte: Z.B. bewegt sich der Patient, treibt er Sport? Wie ernährt er sich? Welche Methoden wendet er an, um zu entspannen? Kann er überhaupt entspannen? Wie erholsam ist sein Schlaf? Viele dieser Facetten haben Einfluss auf das Schmerzerleben.
Durch kleine Anpassungen und Veränderungen bei der Bewegung, Erlernen von Entspannungstechniken, der Ernährung und der Verbesserung des Schlafs können gute Resultate bewirkt werden. All diese Elemente stehen jedoch nicht für sich allein. Unser soziales Umfeld ist ebenso wichtig. Es macht einen grossen Unterschied, ob wir uns einsam fühlen und zurückgezogen leben oder ob wir im Austausch mit anderen stehen, Beziehungen pflegen, einer Arbeit oder Hobbies nachgehen können. Dieses soziale Dach stützt und trägt.
Man kann es sich wie ein feines Zahnradgetriebe vorstellen: Wird ein Zahnrad bewegt, sei es Bewegung, Entspannung oder soziale Teilhabe, wirkt sich das auf das gesamte System aus. Genau darin liegt die Kraft eines ganzheitlichen Therapieansatzes: Kleine Veränderungen können viel bewirken.
Rheumaliga Schweiz: Welche Rolle spielen Schmerzmedikamente in Ihrem Praxisalltag?
Pfarr: Schmerzmedikamente spielen insofern eine wichtige Rolle, als viele Patient*innen bereits mit bestehenden Verordnungen zu mir kommen. In diesen Fällen prüfe ich sorgfältig die ursprüngliche Indikationsstellung. Welche Medikamente sind tatsächlich noch sinnvoll? Erzielen sie noch die gewünschte Wirkung? Gibt es Nebenwirkungen oder Wechselwirkungen?
Häufig äussern die Patient*innen den Wunsch, weniger Medikamente einnehmen zu müssen. Ziel ist es, die Analgesie, also den Einsatz von Schmerzmitteln zur Schmerzunterdrückung, auf das Wesentliche zu reduzieren. Dabei ist zentral, dass die Entscheidungen zusammen mit den Patient*innen getroffen werden. Es ist Teamarbeit auf Augenhöhe.

Rheumaliga Schweiz: Kommen die meisten Patient*innen zu Ihnen in der Erwartung, dass der Schmerz irgendwann ganz verschwunden sein wird?
Pfarr: Viele meiner Patient*innen kommen mit dem klaren Wunsch, weniger Schmerzen zu empfinden oder einen neuen Umgang mit dem Schmerz zu finden. Das ist ein nachvollziehbares Anliegen und es bedeutet auch, sich auf einen aktiven, manchmal fordernden Prozess einzulassen. Die meisten bringen genau diese Offenheit und Motivation mit.
Ein wesentlicher Aspekt ist dabei der Blickwinkel: Wenn ich meine Aufmerksamkeit, bildlich gesprochen, wie den Lichtkegel einer Taschenlampe ausschliesslich auf den Schmerz richte, also auf das, was fehlt oder nicht mehr funktioniert, dann nehme ich ihn meist intensiver, belastender oder bedrohlicher wahr. Wenn ich hingegen verstehe, was im Körper passiert, und weiss, welche Möglichkeiten ich habe, darauf zu reagieren, verändert sich oft schon die Wahrnehmung.
Es geht darum, neue Wege zu erproben und zu erkennen, dass der Schmerz nicht isoliert existiert. Es geht letztlich um die bewusste Auseinandersetzung mit der Frage: Wie gehe ich mit meinem Schmerz um? Und: Welche Schritte kann ich selbst setzen, um wieder mehr Einfluss und Lebensqualität zu gewinnen?
Hintergrundinformationen zur Expertin
Dr. med. Juliane Pfarr ist Fachärztin für Anästhesiologie FMH mit Spezialisierung für Psychosomatische Medizin SAPPM und Interventionelle Schmerztherapie SSIPM. Als Schmerzspezialistin arbeitet sie selbständig in eigener Praxis für ganzheitliche Schmerzmedizin in Zürich.
Am Universitätsspital Zürich absolvierte sie ihre Facharztausbildung und war zuletzt als Leitende Ärztin im ambulanten Schmerzzentrum des Regionalspitals Burgdorf tätig.
Dieser Text wurde im Mitgliedermagazin forumR 2/2025 der Rheumaliga Schweiz publiziert.
Autorin: Julia Kind