
Gegen seine Rückenschmerzen wurden Matthias Galbier opioidhaltige Schmerzmittel verschrieben – darauf folgte eine elfjährige Abhängigkeit, während der er die Dosis immer weiter steigerte. Von den Schmerzmitteln wieder loszukommen, war ein langer Prozess. Dazu musste er auch lernen, seine Schmerzen anzunehmen.
Plötzlich waren die Rückenschmerzen da. Matthias Galbier war zu dem Zeitpunkt 19 Jahre alt und hatte soeben seine Lehre als Zimmermann abgeschlossen – sein Traumberuf, seit er fünf Jahre alt war. Er hatte sich gefreut, im Beruf richtig Fuss zu fassen und mehr Selbständigkeit zu erlangen.
Doch als er nach verschiedenen Abklärungen die Diagnose Skoliose erhielt, bedeutete dies einen jähen Einschnitt in seinem Alltag: Er startete eine Physiotherapie, ging zum Chiropraktiker – und bekam von seiner Hausärztin das Schmerzmittel Tramadol verschrieben. Tramadol gehört zu den schwach wirksamen opioidhaltigen Schmerzmitteln. Die Schmerzen nahmen dadurch etwas ab und für kurze Zeit schwebte er «auf Wolke sieben», wie Matthias Galbier erzählt. Doch dieses Gefühl liess rasch nach. Zu den Nebenwirkungen, die er verspürte, gehörten Gedächtnisprobleme, zuweilen Antriebslosigkeit und Müdigkeit.
Als sich die Rückenbeschwerden nach zehn Monaten noch nicht gebessert hatten, wurde er an eine Rheumatologin überwiesen. Sie stellte die Diagnose Morbus Bechterew.

«Ich habe alles ausprobiert, was mir Hoffnung gab»
Dank der Rheumamedikamente und Bewegungstherapien, die er daraufhin verschrieben bekam, verschwand ein Teil seiner Schmerzen. Insgesamt aber blieben sie dennoch so intensiv, dass Matthias Galbier weiterhin starke Schmerzmittel einnahm. Damit diese jedoch noch Wirkung zeigten, musste er – jeweils in Rücksprache mit seiner Hausärztin – die Dosis kontinuierlich erhöhen.
Auch wechselte er von einem Wirkstoff zum anderen und wieder zurück, «wie ein Ping-Pong», erinnert er sich. Daneben probierte er alles aus, was als Therapie infrage kam und Linderung versprach: von Bewegungs- und Rehatherapien, über traditionelle chinesische Medizin bis hin zu Hypnose und Meditation. «Schmerzmittel habe ich nie als eine gute Lösung empfunden. Ich hegte immer die Hoffnung, dass sich die Schmerzen irgendwann legen und ich die Medikamente wieder absetzen kann», erklärt Matthias Galbier.
Fentanyl als abschreckendes Beispiel
Dann kam der Tag, an dem ihm seine Hausärztin sagte, dass sich die Dosis seines damaligen Schmerzmittels nicht weiter steigern liesse. Matthias Galbier war damals 28 Jahre alt und nahm seit mittlerweile rund acht Jahren opioidhaltige Medikamente. Nun schlug ihm seine Hausärztin einen Wechsel zum Medikament Fentanyl vor. «Das hat mir die Augen geöffnet», meint Matthias Galbier rückblickend. Kurz zuvor hatte er eine Dokumentation über Fentanyl und die Opioid-Epidemie in den USA gesehen, was seinen Blick auf opioidhaltige Schmerzmittel verändert hat – und damit auch auf seinen eigenen Gebrauch.
Dass er körperlich und psychisch von den Schmerzmitteln abhängig war, hatte er sich bis zu dem Zeitpunkt nie richtig bewusst gemacht. Er sah die Medikamente schlicht als Mittel, um seine Schmerzen in Schach zu halten. «Die Schmerzmittel stellten für mich aber auch eine Art Flucht dar: Nahm ich das Medikament, ging es mir sogleich besser. Was danach kommt, war mir egal.»

Jede Dosisreduktion verursachte Beschwerden
Doch jetzt fasste er den Entschluss, von den Schmerzmitteln loszukommen. Ein Aufenthalt in einer Entzugsklinik kam für ihn damals nicht infrage – zu gross war die Angst vor dem Stigma und den Reaktionen seines Umfelds. Stattdessen liess er sich durch seine Hausärztin begleiten.
Er erhielt dazu in Tabletten und Pflasterform das Opioid Buprenorphin, das seine Wirkung über einen Zeitraum von vier Tagen entfaltete. So fielen die Entzugserscheinungen geringer aus und sein Zustand konnte stabil gehalten werden. Schrittweise wurde die Dosis alle drei Wochen reduziert. Trotzdem ging es ihm während des Entzugs «wirklich schlecht», wie er sagt. Jede Dosisreduktion war mit grippeähnlichen Beschwerden verbunden und setzte ihm psychisch zu.
Nachdem er die Tabletten abgesetzt hatte und schliesslich auch auf die Pflaster verzichtete, traten heftige Entzugssymptome auf: Er litt unter Schweissausbrüchen, sehr starken Schmerzen und Panikattacken. Es war ein unerwarteter Rückschlag, mit dem er damals haderte. Um weitere Entzugssymptome zu vermeiden, verkleinerte Matthias Galbier die Pflaster fortan Stück für Stück, bis er sie zuletzt ganz weglassen konnte. Er hatte es geschafft: Drei Jahre, nachdem er den Entzug begonnen hatte, konnte er wieder ohne opioidhaltige Schmerzmittel sein!
Ein unterstützendes Umfeld
Der Suchtdruck war das Schwierigste an seiner Abhängigkeit. «Dieses ständige Gefühl von: Ich brauche mehr, mehr, mehr und ohne das funktioniere ich nicht mehr», wie Matthias Galbier sagt. Aus diesem Grund ging er gegen Ende des Entzugs noch zu einer Suchtberatungsstelle. Dort konnte er das Thema Suchtdruck unbefangen besprechen und erhielt Tipps für einen konstruktiven Umgang damit. So erkannte er, dass es ihm half, beschäftigt zu sein, um dem Suchtdruck vorzubeugen. In dieser Zeit stellte sein Hund Lug eine besonders grosse Stütze dar, da der Vierbeiner für Spaziergänge immer motiviert zur Verfügung stand.
Matthias Galbier konnte auch auf ein sehr unterstützendes privates und berufliches Umfeld zählen, was es ihm erleichterte, die emotional anspruchsvolle Zeit des Entzugs durchzustehen. Vor allem seine Freundin und seine Kollegen bestärkten ihn immer wieder darin, weiterzumachen und nicht aufzugeben – gerade auch in Situationen, die ihn überforderten, da ihm alles wehtat.
Zudem war es für ihn essenziell, Struktur im Alltag zu haben und zu spüren, dass er gebraucht wird. Er arbeitete mittlerweile als Arbeitsagoge in einer Institution für Menschen mit körperlichen und geistigen Einschränkungen, wo das Umfeld verständnisvoll war. Gerade auch seine Klient*innen gaben ihm viel zurück. «Das habe ich gebraucht – sonst hätte ich wohl den Halt verloren», meint Matthias Galbier. «Für mich bestand die Gefahr darin, zu den Medikamenten zu greifen, wenn ich zuhause bin. Deshalb habe ich trotz der Beschwerden immer versucht zu arbeiten.»

Den Schmerz annehmen
Heute blickt Matthias Galbier anders auf seine Schmerzen. Ihm ist bewusst, dass er wahrscheinlich nie ganz schmerzfrei leben wird: «Ich musste mir eingestehen, dass ich vom Wunsch, der Schmerz möge komplett verschwinden, ablassen muss. Denn diesem Wunsch nachzugehen, frisst enorm viele Ressourcen – und am Ende wirst du wahrscheinlich enttäuscht.» Stattdessen ist er heute zufrieden damit, dass sich seine Schmerzen immerhin reduzieren liessen. «Doch es war für mich ein sehr, sehr langer Prozess, bis ich meine Schmerzen annehmen konnte – und nicht mehr versucht habe, gegen sie anzukämpfen», erzählt er.

Der Schmerz ist für Matthias Galbier zu einem Begleiter geworden, den er gelernt hat zu akzeptieren. Ein für ihn hilfreicher Rat war, in kleinen Schritten zu denken, statt auf ein grosses Endziel zu fokussieren. Nach und nach hat er verschiedene Strategien entwickelt, um mit dem Schmerz umzugehen. So geht er weiterhin regelmässig zur Physiotherapie und macht täglich verschiedenste Übungen. Ausserdem probiert er im Rahmen einer Schmerztherapie immer wieder neue Ansätze aus, wie eine Ketamintherapie oder das Veröden von Nervenenden.
Ist der Schmerz sehr stark, unternimmt er etwas, das ihm Freude bereitet und ihn ablenkt. Er kocht dann beispielsweise ein aufwendiges Gericht oder geht mit seinem Hund raus. Und manchmal sagt er sich auch einfach: «Okay, jetzt ist der Schmerz halt da.»
Text erschienen im forumR 2/2025 Autorin: Julia Kind
Fotos: Susanne Seiler