«Es muss schmerzfreie Tage gegeben haben. Ich kann mich nur nicht mehr daran erinnern.»

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«Ich und mein Rheuma»: Anita Oswald, 43 Jahre, lebt seit ihrer Jugend mit Fibromyalgie. Sie erzählt von den Anforderungen mit Rheuma im Alltag.

Als Jugendliche hatte ich häufig Schmerzen in Armen, Beinen und im Rücken. Dazu kamen unspezifische Probleme wie Kopf- und Magenschmerzen oder Schwindelanfälle. Alle Symptome wurden untersucht, aber nie in Verbindung mit Rheuma gebracht. Die Diagnosen reichten von Wachstumsschmerzen bis zu «ohne Befund». Es gab Zeiten mit mehr Schmerzen und welche mit weniger. Ich nahm es hin, das Leben als Teenager war bunt, verwirrend und bot genügend Ablenkung.

Als ich älter wurde, blieben die gesundheitlichen Probleme. Sie kamen in Schüben, jedes Mal stand ein anderes Körperteil im Vordergrund. Das verwirrte nicht nur die Ärztinnen und Ärzte, auch ich setzte die Beschwerden nicht miteinander in Kontext. Dazu zog ich einige Male um und hatte immer wieder neue Hausärzte. Im Laufe der Zeit hatte ich unzählige Untersuchungen gesammelt, aber kaum Ergebnisse. Ich nahm an, dass mein Körper halt schwierig war. Offenbar gehörte es zu mir, dass ich Schmerzen hatte, oft Gegenstände fallen liess, stolperte, schnell müde war und schlecht schlief.

Diagnosestellung

Das Leben nahm seinen Lauf und ich fand mich als Alleinerziehende mit zwei kleinen Kindern wieder. Ich arbeitete Vollzeit, weil ich mich um die finanzielle Sicherheit meiner Familie sorgte. Das führte 2008 zum totalen Zusammenbruch. Nach einer Phase mit sehr wenig Schlaf und starken Schmerzen hatte ich, mitten im Büro, einen Ohnmachtsanfall. Der Notarzt kam, fand aber keinen Grund für den Zusammenbruch. Es war, als hätte mein vegetatives Nervensystem einfach den Reset-Knopf gedrückt. Wie bei einem Computer, wenn nichts mehr geht – Neustart.

Doch ich wurde krankgeschrieben und mein damaliger Hausarzt begann mit umfangreichen Abklärungen. Er stellte Vermutungen an, ordnete Untersuchungen an, Fachärzte beurteilten die Ergebnisse. Etwa jede zweite Woche stand eine neue Krankheit im Raum. Multiple Sklerose, Krebs, neurologische Krankheiten, deren Namen ich mir nicht merken konnte. Alles negativ. Ich war erleichtert, aber auch besorgt, denn mir war klar, irgendwas stimmte nicht mit mir. Als Letztes schickte der Hausarzt mich mit einem Verdacht zum Rheumatologen. Dort wurde ich ausführlich untersucht. Etwas irritiert war ich, als ich auch vermessen und gewogen wurde. Die körperliche Untersuchung war schmerzhaft, der Arzt drückte mit seinen Fingern auf bestimmte Körperstellen. Ich zuckte zusammen, an anderen Stellen reagierte ich kaum. Nach der Untersuchung teilte mir der Rheumatologe mit, dass ich Fibromyalgie habe. Das sei eine harmlose Schmerzkrankheit, die zwar lästig, aber nicht schlimm sei, da sie nicht degenerativ ist. Ich müsse mir einen Weg suchen, was mir bei den Schmerzen guttue, mehr könne man nicht machen. Ausserdem sei ich ja sehr übergewichtig, kein Wunder schmerze der Körper.

Für sich selbst sorgen

Da stand ich nun. Ich hatte endlich eine Diagnose, aber noch keine Lösung. War ich mit meiner Krankheit ganz alleine? Konnte man nichts tun? Mein Hausarzt war ehrlich und sagte, er kenne sich damit auch nicht aus. Fibromyalgie ist nicht heilbar, aber man könne wohl damit leben. Also machte ich mich daran, einen Weg zu finden.

Zuerst beschloss ich, keinen Rheumatologen mehr zu sehen. Die respektlose Art bei der Diagnosestellung hatte mich sehr abgeschreckt. Dann fing ich an zu lesen. Ich fand Informationen bei der Rheumaliga Schweiz, in Büchern aus Deutschland und in englischer Forschung. Ich las alles, was ich finden konnte und wurde immer verwirrter. Offenbar gab und gibt es keinen Konsens über die Ursache von Fibromyalgie. Und auch nicht darüber, ob es wirklich eine rheumatologische Krankheit ist. Die Theorien beinhalten verschiedene immunologische, genetische, neurologische und psychische Ansätze. Für Betroffene ist das nicht hilfreich. Genauso wenig wie die teilweise abstrusen Theorien, die im Internet kursieren.

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Ich habe für mich entschieden, dass Selbstmanagement der Schlüssel im Umgang mit Fibromyalgie ist. Jede Betroffene, jeder Betroffene muss seinen individuellen Umgang mit der Krankheit finden. Für mich hiess das ausprobieren. Wärme, moderate Bewegung, TENS-Gerät, Ernährung, das ganze Jahr eine Sonnenbrille gegen die Lichtempfindlichkeit tragen, mit Ressourcen haushälterisch umgehen, Pausen einplanen, Ablenkung suchen, die Seele mit guten Inputs nähren, Kreativität, Entspannungstechniken wie Autogenes Training. Das ist mein Strauss an Massnahmen aus dem ich mir nehme, was ich brauche.

Einzig eine hilfreiche medikamentöse Therapie fehlt mir. Bei Fibromyalgie gibt es das nicht. Es gibt Medikamente gegen andere Krankheiten, welche auf die Schmerzen eine positive Wirkung haben können. Auch hier muss man austesten. Leider hat kein Medikament bei mir angeschlagen.

Die nächste Krankheit

Nach 10 Jahren Selbsttherapie war ich so weit, doch wieder mit einem Rheumatologen zu sprechen. Ich wollte wissen, ob es neue Erkenntnisse zur Fibromyalgie gab. Also liess ich mich überweisen und hatte Glück. Der neue Rheumatologe bestätigte die ursprüngliche Diagnose, war aber ungleich verständnisvoller und seine Ausführungen hilfreich. Wir besprachen meine bisherigen Bemühungen und er gab neue Impulse. Da er im regionalen Spital arbeitet, fiel ihm ein Punkt in meiner Akte auf. Ich war in den letzten Jahren mehrmals wegen Knochenbrüchen im Notfall gewesen. Er stellte mir einige Fragen und ordnete eine Knochendichtemessung an. Ich dachte mir nicht viel dabei, eine Untersuchung mehr auf der Liste. Doch der Befund ergab eine Osteoporose. In meinem 40-jährigen Körper steckten 70-jährige Knochen. Nun hatte ich zwei rheumatologische Krankheiten. Endlich gab es eine Erklärung für all die gebrochenen Handgelenke, aber Osteoporose ist schwer fassbar. Sie bereitet im Alltag keine Probleme, ist noch unsichtbarer als Fibromyalgie. Man beschäftigt sich nicht damit, schon gar nicht, wenn die eigenen Kinder mitten im Teenagerstress sind. Das ist eine Krankheit fürs Pensionsalter. Doch sie war da und in Kombination mit der Fibromyalgie, beispielsweise aufgrund eines unsicheren Ganges wegen Schmerzen, ein erhöhtes Sturzrisiko. Also musste ich auch die Osteoporose in meine Überlegungen einbeziehen. Deshalb legte ich mir einen Gehstock zu, den ich nutze, wenn Unterstützung nötig ist. Zur Osteoporose gibt es einen medikamentösen Behandlungsplan, was für mich ein neues Gefühl war. Man kann was dagegen tun! Die Behandlung schlug an, die Knochendichte stieg wieder.

Waffenstillstand

Die Krankheit ist immer da, jeden Tag. Und sie verursacht Tag für Tag Schmerzen. An manchen Tagen kann ich gut damit umgehen, an anderen nicht. Dann bin ich wütend und traurig. Wenn man immer wieder nachts mit starken Schmerzen aufwacht, zerrt das an den Nerven. Ich bin der Meinung, dass man sich auch diesen negativen Gefühlen stellen und sie aushalten muss. Falscher Optimismus ist nicht hilfreich. Manchmal ist es einfach sch*, an dieser Krankheit zu leiden. Solche Gefühle darf man haben, ohne das positive Denken zu verlieren. Man steht die Traurigkeit durch und am nächsten Morgen wird es besser. Die Sonne ist da und nach einer heissen Dusche lassen sich die Muskeln wieder bewegen. Wichtig ist, nicht in den negativen Gedanken zu verweilen, da man die Situation nicht ändern kann. Auch kein Arzt oder keine Ärztin können das. Also ist es verschwendete Energie, daran zu verzweifeln. Die Energie setzt man besser für Dinge ein, die man mag. Über die Jahre habe ich einen Waffenstillstand mit der Fibromyalgie geschlossen. Sie ist da und bekommt ihren Raum, wenn nötig. Aber ich ordne ihr mein Leben nicht unter. Ich bin mehr als meine Krankheit. Alle meine Rollen im Leben, egal ob im Job, in der Familie oder unter Freunden, das ist mein Inhalt. Alle meine Interessen, meine Neugier, mein Elan, meine Wünsche, das definiert mich. Eine solche Krankheit zwingt dazu, bewusster im Augenblick zu leben. Die grossen Schlagwörter der letzten Jahre, Achtsamkeit und Resilienz, das lehrt die Fibromyalgie automatisch. Sie schenkt mir kostbare Momente und das Bewusstsein, diese Momente hemmungslos zu geniessen. Vielleicht ist es morgen anders, aber damit werde ich mich erst morgen beschäftigen.

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