
Seit einem Jahr leitet Annette Stolz die Rheumaliga Schweiz. Im Gespräch erzählt sie, warum Mut manchmal ein «Nein» bedeutet und weshalb es ihr so wichtig ist, dass Menschen nicht über ihre Krankheit, sondern über ihre Persönlichkeit wahrgenommen werden.
Rheumaliga Schweiz: Was ging dir durch den Kopf, als du deinen ersten Arbeitstag im Frühling vor einem Jahr bei der Rheumaliga angetreten hast?
Annette Stolz: Wie ich mich kenne, ging mir durch den Kopf, was mein Fokus für den Tag ist. Das ist es, woran ich in der Regel denke, wenn ich vom Hauptbahnhof ins Büro an der Josefstrasse laufe. Ich erinnere mich, dass ich eine grosse Verantwortung gegenüber der gesamten Organisation, dem Vorstand, dem Team, den Mitgliederorganisationen und den Betroffenen in der ganzen Schweiz gespürt habe. Das ist noch immer so. Ich gebe alles, damit wir gemeinsam das Beste für die zwei Millionen Rheumabetroffenen in der Schweiz rausholen und ihnen Rückenwind im Umgang mit der Krankheit geben können.
Wir Menschen wollen dafür gesehen werden, wer wir sind, nicht für die chronische Krankheit, mit der wir (vielleicht) leben.
Annette Stolz, Geschäftsleiterin Rheumaliga Schweiz
Rheumaliga Schweiz: Was war in deinem ersten Jahr der überraschendste Moment – etwas, womit du so gar nicht gerechnet hast?
Stolz: Mich überrascht gleichzeitig alles und nichts. Bei mir als Geschäftsleiterin landen die Themen, die den Rahmen des Üblichen sprengen. Es ist sozusagen meine Kernaufgabe, die Überraschung zu erfassen und zu schauen, was wir dann als Organisation daraus machen. Mit der Zeit entwickelt man eine gewisse Routine bezüglich Überraschungen. Gleichzeitig bin ich von Natur aus ein sehr neugieriger und interessierter Mensch, was ich unbedingt bewahren möchte. Wenn man aufhört, das Überraschende in Menschen oder Situationen zu sehen, dann ist es Zeit für Ferien (lacht).
Rheumaliga Schweiz: Wie konntest du gemeinsam mit dem Team die Rheumaliga weiter in Richtung Zukunft führen – z. B. mit Blick auf Digitalisierung, neue Kommunikationswege oder innovative Angebote?
Stolz: Wir haben im Hintergrund viel am zukunftsfähigen Fundament der Organisation gearbeitet. Wir sind mitten in der Umsetzung der Digitalstrategie. Es geht darum, eine einheitliche Datenstruktur, integrierte Prozesse und einen benutzerfreundlichen Aussenauftritt aufzubauen und wir freuen uns schon drauf, wenn die Früchte dieser Arbeit mehr und mehr sichtbar werden.

Rheumaliga Schweiz: Gab es einen Moment, an dem du besonders gespürt hast: Jetzt entsteht etwas Bewegendes, etwas mit Wirkung?
Stolz: Im Austausch mit dem Vorstand, dem Team und den Mitgliederorganisationen, insbesondere im Frühling dieses Jahres, wurde mir dies besonders bewusst. Das hat nochmal viel positive Energie freigesetzt.
Rheumaliga Schweiz: Hand aufs Herz: Gibt es etwas, das du dir in diesem ersten Amtsjahr anders vorgestellt hast?
Stolz: Ich bin ursprünglich davon ausgegangen, dass es mehr um Verwaltung statt Gestaltung geht. Das hängt mit meiner grossen Wertschätzung zusammen, die ich allem, was die Rheumaliga vor meinem Amtsantritt geleistet hat, entgegenbringe. Ich finde es unnötig, Dinge zu verändern nur um der Veränderung willen. Aber wenn es nach 20 Jahren einen Wechsel in der Geschäftsleitung gibt, dann kommt automatisch vieles in Bewegung und will gestaltet werden. Und das ist gut so und gesund für eine Organisation.
Rheumaliga Schweiz: Rheuma gilt oft als Thema für ältere Menschen – wie kann die Rheumaliga dafür sorgen, dieses Bild zu erweitern und die Realität vieler junger Betroffener sichtbarer zu machen?
Stolz: Rheuma ist ein Begriff, der chronische Erkrankungen beschreibt. Rheumabetroffene haben Schmerzen, verlieren Mobilität und Kraft. Das kann man nicht schönreden. Niemand identifiziert sich gerne mit einer Krankheit. Weder jung noch alt.
Wir Menschen wollen dafür gesehen werden, wer wir sind, nicht für die chronische Krankheit, die wir vielleicht haben. Deshalb sind uns bei der Rheumaliga echte Porträts von Betroffenen jeden Alters so wichtig. Wir geben dem Mensch als Ganzes eine Stimme. Betroffene erzählen von Einschränkungen, aber immer auch von Mut und Lebensfreude.
1 von 1000 Kindern in der Schweiz leidet an Rheuma. Wenn es um die Sensibilisierung des Umfelds, wie Eltern, Lehrpersonen oder Schulfreunde, ganz junger Betroffener geht, dann gehen wir gezielt vor. Wir organisieren jedes Jahr einen Familientag und machen Schulbesuche bei betroffenen Kindern. So unterstützen wir Kinder mit Rheuma konkret in ihrem Alltag.
Rheumaliga Schweiz: Was war deine mutigste Entscheidung im letzten Jahr – und was hat sie dir über dich oder über die Organisation gezeigt?
Stolz: Jedes Nein braucht Mut. Und es ist wichtig, dass man den Mut aufbringt, nein zu sagen. Denn nur so entsteht ein klarer Weg voran und nur so kann ich sicherstellen, dass Ressourcen dort eingesetzt werden, wo sie am meisten bewirken können.
Rheumaliga Schweiz: Die Werte der Rheumaliga – Kompetenz, Solidarität und Innovation – begleiten dich täglich. Welche Ideen oder Kooperationen willst du künftig im Sinne dieser Werte besonders fördern?
Stolz: Die Rheumaliga ist im engen Austausch mit Betroffenen und Fachpersonen. Wir wissen, wo der Schuh drückt, und reagieren mit Angeboten, die Versorgungslücken pragmatisch schliessen. Wir denken voraus, haben den Mut, Neues auszuprobieren, und wollen unsere Partner künftig noch stärker einbinden, um gemeinsam mehr Wirkung zu erzielen.
Konkret beschäftigt uns die Lancierung der aufsuchenden Sturzabklärung und -beratung für Senior*innen, die zu Hause wohnen. Ein Drittel der über 65-jährigen Erwachsenen stürzt mindestens einmal pro Jahr. Oft ist es der Anfang vom Ende. Hier können wir auf unserer Erfahrung aus über 6000 Hausbesuchen aufbauen und Grosses bewirken.
Dieses Angebot wird ab Mitte 2026 von der Grundversicherung übernommen, u.a. gemäss dem Konzept der Rheumaliga. Wir setzen uns dafür ein, dass ein spürbarer Mehrwert für die Senior*innen und ihr Umfeld entsteht.
Ganz frisch ist das Denken rund um das Thema Task Shifting in der Grundversorgung und digitale Beratung zur Stärkung der Selbstmanagementkompetenz bei chronischen Erkrankungen wie Rheuma. Wir haben ursprünglich daraufgesetzt, dass MPAs Beratungen durchführen können, auch um die Ärztinnen und Ärzte zu entlasten. Das zeigt zwar die gewünschte Wirksamkeit, löst aber das Problem des Fachkräftemangels nicht, es verlegt nur den Schwerpunkt. Deshalb wollen wir an einer digitalen Lösung arbeiten, die leicht zugänglich ist und deshalb umso stärker wirkt.
Rheumaliga Schweiz: Gab es Stimmen von Betroffenen, Mitarbeitenden oder Partnern, die dich in besonderer Weise berührt oder zum Nachdenken gebracht haben?
Stolz: Jedes Gespräch mit Betroffenen berührt mich. Genauso wie der Austausch mit Ärztinnen und Ärzten und anderen Fachpersonen, die im Alltag mit Rheumabetroffenen arbeiten. Was mich dabei besonders beschäftigt, ist die Frage: Wie können wir gute Ideen so skalieren, dass sie überall dort ankommen, wo sie gebraucht werden? Es gibt viele tolle Pilotprojekte im Gesundheitswesen. Aber oft bleiben sie auf einzelne Orte oder Gruppen beschränkt. Unser Gesundheitssystem ist sehr kleinteilig organisiert. Damit Lösungen wirkliche Wirkung entfalten, braucht es Menschen und Organisationen, die Verbindungen schaffen – zwischen Berufsgruppen, Regionen und Sektoren.
Rheumaliga Schweiz: Was wünschst du dir, wie in fünf Jahren über Menschen mit Rheuma und über die Rheumaliga gesprochen wird?
Stolz: Über die Menschen mit Rheuma: Mit viel Wärme und so, dass der Mensch im Zentrum steht, nicht die Krankheit.
Und über die Rheumaliga: mit Respekt und der Gewissheit, dass wir in der Rheumaversorgung eine verlässliche Kraft sind.