«Bewegung ist wie ein Medikament»

vorlesen
Dr. sc. med. Ralf Roth

Bewegung unterstützt dabei, die Kraft in der Muskulatur zu erhalten, Schmerzen zu lindern und sogar Entzündungsprozesse positiv zu beeinflussen.

Im Interview erklärt Dr. sc. med. Ralf Roth, warum bei Bewegung selbst Kleinigkeiten einen Unterschied machen und dass schon der Spaziergang mit der vollen Einkaufstasche ein guter Anfang sein kann.

Rheumaliga Schweiz: Was ist der grösste Irrtum über Sport und Rheuma, den Sie je gehört haben?

Dr. sc. med. Ralf Roth: Ein typischer Irrtum lautet: «Mit Rheuma soll man sich schonen, Bewegung macht alles nur schlimmer.» Oder: «Es gibt keine Bewegung, die mir guttut.»

Diese Aussagen hört man leider immer wieder, dabei ist das Gegenteil richtig: Bewegung ist eine der wirksamsten Therapien bei Rheuma! Viele Rheumabetroffene haben anfangs Angst, dass Bewegung ihren Gelenken zusätzlich schaden könnte. Diese Sorge ist verständlich, aber unbegründet. Sobald sie erste positive Erfahrungen gemacht haben, merken viele: Bewegung tut gut. Auch Studien und Erfahrungen zeigen ganz klar: Bewegung hilft bei Rheuma. Gezielte Aktivitäten können Schmerzen lindern, die Beweglichkeit erhalten und sogar Entzündungsprozesse positiv beeinflussen. Also Sport und Rheuma können sinnvoll zusammengebracht werden.

Schwimmen entlastet die Gelenke.
Jede Bewegung ist Training.

Rheumaliga Schweiz: Wenn Sie ein sportliches Motto für Rheumabetroffene formulieren müssten, wie würde das lauten?

Roth: Jeder Schritt und jeder Handgriff zählen. Mit jedem Schritt, jedem Handgriff oder jeder anderen, durchgeführten Bewegung geben wir Muskeln und Gelenken die Möglichkeit, ihre Funktion zu erhalten oder zu verbessern. Jede Bewegung ist Training.

Rheumaliga Schweiz:Was geschieht denn im Körper, wenn man regelmässig trainiert?

Roth: Unteranderem bleibt die Kraft der eingesetzten Muskulatur erhalten. Regelmässiges Treppensteigen führt beispielsweise dazu, dass die Beinkraft nicht abnimmt. Somit fühlt sich die Belastung beim Treppensteigen nicht so hoch an, weder in der Beinmuskulatur noch für das Herz-Kreislauf-System, das durch die Bewegung ebenfalls trainiert wird. Auch die Gelenke bleiben durch die Bewegung besser geschmiert und gleiten leichter. Die Reaktion des Körpers auf Muskelaktivität ist sehr vielfältig. Die Muskelaktivität unterstützt die Linderung von Schmerzen, die Regulation von Entzündungen und hilft, die Stimmung aufzuhellen. Alles ohne Tabletten, sondern vom eigenen Körper.

(...) Studien und Erfahrungen zeigen ganz klar: Bewegung hilft bei Rheuma.
Dr. sc. med. Ralf Roth

Rheumaliga Schweiz: Wenn die Gelenke oder der ganze Körper wehtut: Training abbrechen oder durchziehen, was ist die goldene Regel?

Roth: Über Schmerzen gibt uns der Körper ein Signal. Leichte Beschwerden oder eine gewisse Steifigkeit zu Beginn der Bewegung sind bei vielen rheumatischen Erkrankungen normal und bessern sich oft im Laufe des Trainings. Eine goldene Regel könnte lauten: »Man darf dem Schmerz zuwinken, aber ihm nicht die Hand geben». In Zahlen ausgedrückt, bedeutet das, solange der Schmerz bei etwa 3 bis 4 von 10 liegt und sich während oder nach dem Training nicht verschlechtert, darf trainiert werden. Bei stärkeren Beschwerden ist es ratsam, das Programm zu verändern, eine Pause einzulegen oder Rücksprache mit Fachpersonen zu halten.

Rheumaliga Schweiz: Was muss man bei einem Rheuma-Schub bezüglich Training beachten?

Roth: Während eines akuten Rheuma-Schubs steht der Körper unter besonderem Stress: Entzündungen sind verstärkt aktiv, Schmerzen nehmen zu, und viele Betroffene fühlen sich erschöpft. In dieser Phase gilt: Der Körper braucht Ruhe, aber keine komplette Bewegungslosigkeit. Stattdessen steht sanfte Bewegung im Vordergrund. Das können Gelenkmobilisation, Atemübungen, lockeres Gehen oder Bewegungen im Wasser sein. Diese helfen, die Durchblutung zu fördern, den Kreislauf in Schwung zu halten und einer völligen Versteifung der Gelenke vorzubeugen. Wenn Alltagsbewegungen regelmässig Probleme bereiten und die Lebensqualität resp. Lebensfreude eingeschränkt werden, sollte man sich zusätzlich Hilfe von Fachpersonen einholen.

Nordic Walken
Beim Nordic-Walken unterstützen die Stöcke die Stabilität, die Körperhaltung und das Abfedern in den Gelenken.

Rheumaliga Schweiz: Welche Sportarten eignen sich denn besonders gut für Rheumabetroffene?

Roth: Für Menschen mit rheumatischen Erkrankungen eignen sich besonders gelenkschonende, rhythmische und massvoll belastende Sportarten. Also Bewegungsformen, die den Körper fordern, aber nicht überfordern. Ideal sind Sportarten, die gleichmässig viele Muskelgruppen ansprechen, die Beweglichkeit fördern und gleichzeitig Ausdauer, Kraft und Koordination verbessern.

Besonders empfohlen werden können beispielsweise Schwimmen und Aquafitness: Das Wasser entlastet die Gelenke, gleichzeitig bietet es sanften Widerstand für Kräftigung und Koordination. Radfahren (auch auf dem Heimtrainer) bietet gleichmässige Bewegung und eine gute Kontrolle der Belastung, und ist zugleich gelenkschonend. Nordic Walking oder zügiges Spazierengehen aktiviert den Kreislauf, stärkt Herz und Lunge. Beim Nordic Walking mit Stöcken wird zusätzlich die Körperhaltung unterstützt und gleichzeitig die Armbewegung gefördert. Yoga oder Tai Chi fördern Körperwahrnehmung, Beweglichkeit, Gleichgewicht und Entspannung.

Wichtig ist, dass die gewählte Aktivität Spass macht und regelmässig durchgeführt werden kann. Denn Bewegung ist wie ein Medikament, es wirkt am besten, wenn man es kontinuierlich «einnimmt».

Rheumaliga Schweiz:Bei einer rheumatoiden Arthritis können bestimmte Bewegungsmuster oder Belastungen Gelenkverformungen begünstigen. In solchen Fällen sollte die Auswahl und Durchführung von Sportarten mit einer Therapeutin, einem Therapeuten oder ärztlichem Fachpersonal abgestimmt werden.

Roth: Das heisst jedoch nicht, dass diese Sportarten grundsätzlich verboten sind. Bei stabiler Krankheitslage und guter Anleitung, individueller Anpassung kann vieles möglich werden. Wichtig ist immer auf den eigenen Körper zu hören, individuelle Grenzen zu respektieren und im Zweifel professionellen Rat einzuholen.

Umgang mit Beschwerden beim Training
Bei zu starken Beschwerden ist es ratsam, das Programm zu verändern, eine Pause einzulegen oder Rücksprache mit Fachpersonen zu halten.

Rheumaliga Schweiz: Rheuma und Gewichtheben. Ist das eine gute Idee oder sollte ich lieber nur meine Einkaufstasche stemmen?

Roth: Grundsätzlich gilt: Auch mit Rheuma darf und soll Kraft aufgebaut werden, denn starke Muskeln entlasten die Gelenke. Aber: Das bedeutet nicht, dass man gleich zur Langhantel greifen muss! Entscheidend sind die richtige Dosis, eine gute Technik und eine gelenkschonende Ausführung. Gezieltes Krafttraining, mit kleinen Hanteln, einem Theraband oder dem eigenen Körpergewicht, kann sehr sinnvoll sein, um Kraft, Stabilität und Körperkontrolle zu verbessern. Wichtig ist, mit wenig Gewicht zu starten, die Übungen langsam und kontrolliert auszuführen und vor allem auf den eigenen Körper zu hören.

Wer seine Einkaufstasche jeden Tag locker in den dritten Stock trägt, hat ein ordentliches Krafttraining absolviert.

Rheumaliga Schweiz: Wann ist denn die beste Zeit, um zu trainieren?

Roth: Die beste Zeit für Bewegung ist, ganz einfach gesagt, die Zeit, die am besten in Ihren Alltag passt und sich gut anfühlt. Es gibt kein richtig oder falsch, der Trainingseffekt unterscheidet sich laut aktueller Forschung durch die Wahl der Tageszeit nicht. Aber es gibt ein paar hilfreiche Hinweise, besonders für Menschen mit Rheuma:

Viele Betroffene berichten, dass sie sich morgens eher steif und unbeweglich fühlen. In diesem Fall kann ein sanftes Mobilisationsprogramm am Morgen helfen, den Kreislauf in Schwung zu bringen und die Gelenke zu lockern, aber das eigentliche Training (bspw. Kraft oder Ausdauer) ist mittags oder nachmittags angenehmer.

Grundsätzlich gilt: Auch mit Rheuma darf und soll Kraft aufgebaut werden, denn starke Muskeln entlasten die Gelenke. Aber: Das bedeutet nicht, dass man gleich zur Langhantel greifen muss! Entscheidend sind die richtige Dosis, eine gute Technik und eine gelenkschonende Ausführung.
Dr. sc. med. Ralf Roth

Rheumaliga Schweiz: Dann bleibt nur noch die wichtigste Frage: Wie kann man sich fürs Training motivieren?

Roth: Dranbleiben fällt oft schwer, vor allem, wenn Schmerzen, Müdigkeit oder der Alltag dazwischenfunken. Doch gerade bei chronischen Erkrankungen wie Rheuma ist regelmässige Bewegung ein Schlüssel für mehr Lebensqualität. Die gute Nachricht: Motivation kann man trainieren, genau wie Muskeln.

Ein erster Schritt ist es, sich kleine und erreichbare Ziele zu setzen. Lieber sagt man sich: «Ich bewege mich heute zehn Minuten» als «Ich muss jetzt eine ganze Stunde trainieren.» Erfolgserlebnisse, und sei es nur ein kurzer Spaziergang, wirken motivierend und geben Selbstvertrauen.

Gute Ziele sollten SMART sein, also spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch, terminiert. Für eine 65-jährige Frau mit erhöhtem Osteoporose-Risiko könnte dreimal pro Woche ein 15-minütiger Spaziergang mit einer Freundin der richtige Einstieg sein. Der Spaziergang wirkt spezifisch auf die Osteoporose-Problematik (Bewegung an der frischen Luft, Training des Gleichgewichtssinns, zugleich Sturzprophylaxe), messbar (3x/Woche), attraktiv (in Gesellschaft mit ihrer Freundin), realistisch und terminierbar (durch die Verabredung). Ein solcher Einstieg ist nicht überfordernd, aber wirkungsvoll und gut in den Alltag integrierbar.

Hintergrundinformationen zum Experten

Dr. sc. med. Ralf Roth ist wissenschaftlicher Angestellter am Departement für Sport, Bewegung und Gesundheit der Universität Basel. In seinen Forschungsprojekten beschäftigt er sich vor allem mit den Wirkmechanismen von Krafttrainingsübungen in der Prävention und der Therapie von Verletzungen des Bewegungsapparates.

Sein praktischer Hintergrund ist die Tätigkeit als Sporttherapeut in der orthopädischen Rehabilitation. Zusätzlich ist er als Referent für Weiterbildungen im Bereich Bewegungsinterventionen bei Kindern und Senioren tätig. Er hat seine Ausbildung unter anderem in Sporttherapie (DVGS) absolviert sowie ein Studium und eine Promotion in Sportwissenschaften abgeschlossen.

Dieser Text wurde im Mitgliedermagazin forumR 3/2025 der Rheumaliga Schweiz publiziert.

Autorin: Daria Rimann

Stichworte