Cortison: Was ist gut und was ist böse?

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Cortison Injektion

Autor: Dr. med. Johannes Fröhlich, Oberarzt Universitätsklinik für Rheumatologie, Immunologie und Allergologie, Inselspital, Bern.

Erstveröffentlichung: Zeitschrift «info» Nr. 152 (Juni 2019) der Schweizerischen Polyarthritiker-Vereinigung (SPV)

Für manche ist es das «böse» Cortison, das sie niemals als Medikament einnehmen würden, andere wiederum schwören geradezu darauf und würden es am liebsten nie mehr hergeben. Was ist Cortison? Welches sind die Vorteile und wie wirkt es denn überhaupt? Welche unerwünschten Wirkungen hat es? Mit diesen Fragen befasst sich der folgende Artikel, um eine nüchterne Sicht auf die Notwendigkeit, die Vorteile, aber auch die Gefahren zu gewinnen.

Was ist Cortison?

Portraet Froehlich
Dr. med. Johannes Fröhlich

In erster Linie ist Cortisol ein lebenswichtiges Stresshormon, welches in unserer Nebenniere gebildet wird. Es beeinflusst eine Vielzahl von Prozessen in unserem Körper und dient sowohl der Bereitstellung von Energie als auch der Kontrolle des Blutdrucks und der Elektrolyte (Mineralstoffe im Blut, wie beispielsweise Natrium und Kalium). Cortison ist dabei eine biologisch inaktive Vorstufe und muss von der Leber in das aktive Cortisol umgewandelt werden.

Es wurde in den Dreissigerjahren entdeckt und erstmals 1948 einer Patientin mit schwerem Rheuma injiziert, worauf diese für eine gewisse Zeit schmerzfrei wurde. Für seine Entdeckung, Herstellung und Anwendung gab es 1950 den Nobelpreis für Medizin.

Seither spielt Cortison eine fundamentale Rolle in der Therapie der rheumatoiden Arthritis (RA) sowie von vielen auto­immunen, entzündlichen und allergischen Erkrankungen. Cortison, als Stresshormon, beeinflusst viele grundlegende Prozesse in unserem Körper, wie etwa den katabolen Stoffwechsel, um dem Körper schnell Energievorräte zur Verfügung zu stellen, aber auch der Prozesse der Wahrnehmung, Denkfähigkeit, Zellteilung und Zellentwicklung, der Entzündung und Immunabwehr.

Wie wirkt Cortisol?

Man unterscheidet zwei Wirkungen des von der Nebenniere hergestellten Cortisols. Zum einen wirkt es auf die Zusammensetzung von Mineralstoffen im Blut (vor allem Natrium und Kalium), welches wiederum Auswirkung auf den Blutdruck hat. Diese nennt man auch die mineralokortikoide Wirkung.

Zum anderen wirkt es in den meisten Zellen des menschlichen Organismus zur Bereitstellung von Energie, was als glukokortikoide Wirkung bezeichnet wird. Diese Wirkung wird in der Therapie der RA gewünscht, da sie auch einen entzündungshemmenden Effekt entfaltet. Die mineralokortikoide Wirkung hingegen ist meistens nicht erwünscht. Der glukokortikoide Effekt wird durch zwei unterschiedliche Mechanismen vermittelt.

  • Zum einen wirkt Cortisol innerhalb des Zellkerns, indem es sich an seinen Rezeptor, den sogenannten Glukokortikoidrezeptor, bindet und damit die Produktion von Eiweissen, Enzymen und Botenstoffen steuert. Diese Wirkung findet in fast allen Zellen und Organen des menschlichen Körpers statt. Sie wird bereits bei geringen Dosen von Cortison ausgelöst und erreicht ihr Maximum innert sechs bis acht Stunden. Man bezeichnet es auch als genomische Wirkung (das heisst am Zellkern wirkend). Sie ist für die meisten unerwünschten Wirkungen der Cortison-Therapie verantwortlich.
  • Die nichtgenomische Wirkung andererseits tritt sehr schnell, innerhalb von Sekunden bis wenigen Minuten, ein und ist dosisabhängig. Dabei kann Cortisol direkt an der Zellwand angreifen oder über seinen Glukokortikoidrezeptor, welcher in der Zellwand verankert ist. Diese Wirkung findet nicht an allen menschlichen Zellen statt. Bislang bekannt sind sie an Leber-, Muskel-, Nervenzellen und speziellen Leukozyten (B-Lymphozyten, T-Lymphozyten).

Durch diese beiden Mechanismen, nämlich den genomischen (im Zellkern) und den nichtgenomischen (an der Zellwand), kommt es zu einer sehr breiten Wirksamkeit von Cortisol, wie etwa der Hemmung der Immunantwort und Entzündungsreaktion, beeinflusst aber auch den Glukosestoffwechsel, Knochen, die Muskulatur, das Gehirn und Blutgefässe.

Nachdem es erstmals 1951 gelang, Cortison vollkommen synthetisch herzustellen, kamen zwischenzeitlich mehrere Präparate auf den Markt, welche sich im Wesentlichen in ihrer Wirkungsdauer und der Wirkungsstärke unterscheiden. Die Wirkungsstärke betrifft sowohl den mineralokortikoiden Effekt, der so gering wie möglich sein sollte, als auch den glukokortikoiden Effekt oder auch Potenz genannt.

Ferner wird unterschieden, ob die Medikamente lokal wirksam sind, wie etwa in Hautsalben, als Depotpräparat in einem Gelenk, oder ob sie systemisch wirksam sind, wie beispielsweise in Tablettenform oder als intravenöse Injektion.

Dementsprechend ist auch mit unterschiedlichen Nebenwirkungen zu rechnen. Zu den meisten Nebenwirkungen kommt es natürlich bei systemisch verabreichten Medikamenten, wohingegen lokal verabreichte Medikamente weniger Nebenwirkungen verursachen. Aber auch da muss berücksichtigt werden, dass ein geringer Teil der Dosis in das Blutsystem aufgenommen werden kann und im gesamten Körper (also systemisch) wirkt. So sind die systemischen Wirkungen bei einer Injektion in ein Gelenk häufiger als bei einer Anwendung auf der Haut. Für Depot-Injektionen in die Muskulatur gibt es heutzutage keine Indikation mehr.

Prinzipiell gilt, Cortison in einer so geringen Dosierung wie möglich und während so kurzer Zeit wie nötig zu verabreichen.

Welches sind die Vorteile von Cortison?

Die wichtigsten Vorteile des Cortisons im Vergleich zu vielen anderen Immunsuppressiva sind der rasche Wirkungseintritt und die dosisabhängige und breite Wirkung.

  1. Insbesondere bei höheren Dosen von Cortison kommt es bereits wenige Sekunden nach der Verabreichung zu einem ersten Wirkungseintritt. Dies ist bei einzelnen Erkrankungen von entscheidender Bedeutung und ist oft lebensrettend. Dazu gehören allergische Reaktionen, aber auch entzündliche und autoimmune Erkrankungen, bei denen es zu einer Beteiligung von lebenswichtigen Organen wie Herz, Niere, Lunge oder Gehirn kommt.
  2. Ein weiterer Vorteil des Cortisons ist seine dosisabhängige Wirksamkeit. Während bei einem akuten RA-Schub Prednisolon-Dosen von 15 bis 20 mg ausreichen, um die Entzündung der Gelenke unter Kontrolle zu bekommen, sind etwa bei einer Vaskulitis (Gefässentzündung) mit Beteiligung des zentralen Nervensystems Dosierungen von 1000 mg oder höher notwendig.
  3. Die breite Wirksamkeit von Cortison ist zweischneidig. Einerseits sind damit vermehrt unerwünschte Wirkungen verbunden (worauf wir später noch eingehen werden), andererseits kann gerade eine Situation, in welcher zum Beispiel eine Entzündungsreaktion ausser Kontrolle geraten ist, durch die breite Wirkung auf unterschiedliche Entzündungsboten und Entzündungszellen rascher und effizienter wieder unter Kontrolle gebracht werden.

Weitere Vorteile sind die unterschiedlichen Applikationsformen, wie bereits vorgängig beschrieben (intravenös, in Tablettenform, intraartikulär oder lokal, wie etwa auf die Haut oder Schleimhäute).

Cortison hat auch heute, in der sogenannten Biologika-Ära, nach wie vor seinen festen Stellenwert, insbesondere wenn eine Krankheitskontrolle innerhalb kürzester Zeit notwendig ist. Es bleibt aber das Prinzip, dieses in einer so geringen ­Dosierung wie möglich und während so kurzer Zeit wie nötig zu verabreichen.

Welches sind die Nachteile von Cortison?

Gerade weil Cortison eine breite Wirkung hat und an fast allen Zellen des menschlichen Körpers wirkt, treten auch unerwünschte Wirkungen auf. Je länger das Medikament verabreicht wird und je höher die Dosierung ist, umso mehr ist mit Nebenwirkungen zu rechnen.

  1. Zu diesen gehören unter anderem erhöhte Blutzuckerwerte. Diese entstehen sowohl durch eine vermehrte Bildung und Bereitstellung von Glukose als auch durch eine Insulinresistenz. Regelmässige Messungen des Blutzuckerspiegels sind vor allem zu Beginn einer Cortison-Therapie, bei höheren Dosierungen oder einer bereits vorbestehenden diabetogenen Stoffwechsellage wichtig, um im Bedarfsfall gegensteuern zu können. Auch der Blutdruck sollte regelmässig überwacht werden, da durch die mineralokortikoide Wirkung vermehrt Natrium und Wasser im Körper zurückgehalten werden, was zu einem erhöhten Blutdruck führt.
  2. Eine weitere unerwünschte Wirkung von Cortison ist die Myopathie mit Muskelschwäche und Verlust an Muskelmasse. Um dem entgegen zu wirken, ist ein regelmässiges Training bereits ab Beginn einer Cortison-Therapie sinnvoll und empfehlenswert, da die bereits verlorengegangene Muskelmasse nur mit viel Aufwand und Disziplin wiedererlangt wird.
  3. Weiter hat Cortison auf den Knochenhaushalt eine negative Wirkung, indem vermehrt Knochen abgebaut wird und eine Osteoporose entstehen kann. Damit ist ein erhöhtes Frakturrisiko vor allem der Wirbelkörper und Hüften verbunden. Um dem vorzubeugen, wird eine Therapie mit Kalzium und Vitamin D ab Beginn der Cortison-Therapie empfohlen. Dauert die Cortison-Therapie länger als drei Monate, sollte eine Knochendichtemessung durchgeführt werden. Je nach Ergebnis sollte eine osteoporosespezifische Therapie mit zum Beispiel Bisphosphonaten eingeleitet werden.
  4. Ebenfalls erhöht ist das Risiko einer Knochennekrose, insbesondere des Hüftkopfes. Dabei kommt es infolge einer verminderten Durchblutung des Knochens zu einem Absterben einzelner Bereiche, was zu Knochenbrüchen führt. Das Risiko der Knochennekrose steigt mit zunehmender Cortison-Dosis. Diese Nebenwirkung ist gefürchtet, da meistens ein Gelenkersatz mittels Prothese nötig wird.
  5. Eine weitere unerwünschte Wirkung, unter welcher die Betroffenen besonders leiden, ist eine Gewichtszunahme, welche sowohl durch einen verminderten Grundumsatz als auch durch eine vermehrte Nahrungsaufnahme wegen vermehrtem Hungergefühl bis hin zu Heisshungerattacken, bedingt ist.
  6. Es kommt ferner zu einer Umverteilung des Unterhautfettgewebes, wodurch das Gesicht eine rundliche Form annimmt, auch als «Vollmondgesicht» bekannt, sowie ein breiter Nacken, auch als «Stiernacken» bezeichnet. Diese Umverteilung bildet sich nach Absetzten von Cortison in der Regel zurück. Hingegen regeneriert sich die dünne und verletzbare Haut, «Steroidhaut» genannt, die sich meist nach mehrjähriger Cortison-Therapie bemerkbar macht, nicht.
  7. Weitere unerwünschte Wirkungen können Zyklusstörungen der Frau sein, Libidoverlust, Erektionsstörungen, aber auch neuropsychiatrische Störungen wie Gereiztheit, Aggressivität, Depressionen, sowie auch Müdigkeit und Schlafstörungen.
  8. Eine Tatsache, welche nicht vernachlässigt werden darf, ist das erhöhte Infektionsrisiko. Dazu gehören gewöhnliche Erreger, aber auch Erreger, welche sich erst bei geschwächter Immunabwehr bemerkbar machen, wie etwa Pneumocystis, Pilzinfektionen und andere.
  9. Am Auge können vor allem höhere Cortison-Dosen zu einer Katarakt (Linsentrübung/grauer Star) und erhöhtem Augeninnendruck bis hin zu einem Glaukom (grüner Star) führen.

Aufgrund dieser vielfältigen Nebenwirkungen sollte der Einsatz von Cortison so kurz wie möglich und in so niedrigen Dosierungen wie nötig sein. Mit jedem Beginn einer Cortison-Therapie sollte gleichzeitig ein Plan bestehen, wann und wie es abgesetzt wird. Um die Gesamtdosis so tief wie möglich zu halten, ist in manchen Situationen auch der Einsatz von Präparaten mit verzögerter Freisetzung von Cortison hilfreich.

Wann ist der Einsatz von Cortison sinnvoll?

Da bei den meisten Basistherapeutika Wochen bis Monate vergehen bis sie ihre vollständige Wirkung entfalten, kann je nach Intensität der Erkrankung (und nach Sicherung der Diagnose) Cortison als initiale Therapie gleichzeitig mit einem Basistherapeutikum gegeben werden, um eine rasche Kontrolle der Entzündungsaktivität zu erreichen. Nachdem die Krankheitsaktivität kontrolliert ist, sollte abhängig von der Erkrankungsart die Cortison-Dosis schrittweise reduziert werden.

Aber auch Schübe einer sonst stabilen Erkrankung können vorübergehend mit Cortison wieder kontrolliert werden, ­ohne dass die Basistherapie verändert werden muss, sofern diese nicht ein Zeichen einer ungenügenden Basistherapie ist.

Gerade nach längerer Cortison-Therapie kann es im Rahmen der Dosisreduktion zu Entzugssymptomen wie Gelenk-, Muskel- und Gliederschmerzen und Müdigkeit kommen, was von den Betroffenen oft als eine vermehrte Aktivität der Erkrankung fehlinterpretiert wird. Diese Beschwerden bessern sich meistens nach wenigen Tagen und sprechen gut auf Paracetamol an. Es ist wichtig, diese Tatsache zu kennen, da man schnell geneigt ist, die Cortison-Dosis wieder zu steigern, in der Meinung, die entzündliche Krankheitsaktivität sei wieder ausgeprägter.

Da unsere Nebennieren während einer Therapie mit Cortison die Eigenproduktion von Cortisol einstellen, muss die notwendige Cortison-Dosis in Situationen eines vermehrten Bedarfs, wie etwa bei Operationen, Infektionen oder Trauma, zugeführt werden. Deshalb sollten behandelnde Ärzte über die regelmässige Cortison-Einnahme informiert werden. Was gerne vergessen geht ist, dass selbst eine einzige Infiltration mit Depot-Präparaten wie etwa eines Gelenks, die Cortisol-Produktion der Nebennieren bis zwei Wochen hemmen kann.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Cortison auch heute bei der richtigen Indikation seinen festen Stellenwert hat und in manchen Situationen lebensrettend ist. Prinzipiell sollte es jedoch angesichts seiner unerwünschten Wirkungen in einer so geringen Dosierung wie möglich und während so kurzer Zeit wie nötig eingesetzt werden.

Podcast zum Thema

Erstveröffentlichung in der Zeitschrift «info» Nr. 152 (Juni 2019) der Schweizerischen Polyarthritiker-Vereinigung (SPV), S. 5 bis 8 (inklusive Literaturverzeichnis).

Wir geben den Originalbeitrag in einer geringfügig gekürzten Fassung wieder. Um der besseren Lesbarkeit willen haben wir die Strukturierung des Textes verdeutlicht und wichtige Begriffe fett hervorgehoben.

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