«Erzwungene Atmung lässt uns noch schneller atmen»

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Mona Gollwitzer

Ob zur Stressbewältigung, zur Konzentrationsförderung oder als Energiequelle – richtiges Atmen kann viel bewirken.

Doch viele Menschen machen dabei grundlegende Fehler. Atemtherapeutin Mona Gollwitzer erklärt anhand von konkreten Übungen, wie wir unseren Atem besser verstehen, im Alltag integrieren und gezielt einsetzen können, und das ganz ohne Anstrengung.

Rheumaliga Schweiz: Was sind typische Fehler oder Missverständnisse bei Atemübungen, die Sie häufig beobachten?

Mona Gollwitzer: Häufig strengen sich Menschen an, sobald es um den Atem geht. Sie haben irgendwo gelesen oder beigebracht bekommen, dass man tief in den Bauch atmen soll. Wird die Atmung zu sehr forciert, so wird der Sympathikus aktiv und sorgt dafür, dass wir noch schneller und aktiver atmen und dabei oft die falschen Muskeln trainieren. Die besten Atemübungen zielen daher eher auf eine indirekte Beeinflussung der Atmung, zum Beispiel durch eine veränderte Körperhaltung oder durch eine dosierte Lippenbremse beim Ausatmen ab.

Die allerbesten Übungen nützen nichts, wenn sie nicht in den Alltag transferiert werden.
Mona Gollwitzer

Rheumaliga Schweiz: Welche einfachen Atemübungen empfehlen Sie für Menschen, die viel sitzen oder unter Stress stehen?

Gollwitzer: Bei sitzenden Tätigkeiten sollten die unteren Extremitäten und das Becken aktiviert werden. Dadurch wird das Zwerchfell, unser Hauptatemmuskel, angeregt. Hierzu eignet sich natürlich am besten regelmässige Bewegung, kurz aufstehen, etwas holen, sich wieder setzen, Treppen steigen, einen Mittagsspaziergang machen und zu Fuss zum Einkaufen gehen. Die vom Sitzen «schlaffen» Beine und das inaktive Becken mit allen Gelenken können durch folgende Übung aktiviert werden: Die Füsse unter dem Tisch flexen, also die Zehen in Richtung Knie hochziehen und wieder zurückstellen.

Das aktiviert die gesamte Beinmuskulatur und unterstützt den Venenrückfluss. Ausserdem werden Sie sich automatisch wieder aufrechter hinsetzen, weil Sie die Füsse sonst gar nicht derart bewegen können. Um die Beweglichkeit des Beckens zu unterstützen können Sie das Becken langsam nach hinten und vorne kippen. So wird es beweglich gehalten. Flexible und mehrheitlich aufrechte Sitzhaltungen wirken sich immer positiv auf die Atemmuskeln aus, diese müssen dann weniger arbeiten, und können dort Kraft entwickeln, wo es von Natur aus vorgesehen ist.

Unter Stress atmen wir schneller und aktivieren die Muskeln im oberen Brust- und Halsbereich. Es kommt zur oberflächlichen Hochatmung. Hier hilft es, die Atmung zu verlangsamen, z.B. durch das Verhältnis «3 zu 5», also beim Einatmen auf 3 zählen, beim Ausatmen auf 5. Bei der Lippenbremse wird das Ausatmen indirekt gebremst und verlangsamt. Die Muskeln rund um die Lippen bilden einen Kussmund, so dass die Luft langsamer ausströmt. Wichtig dabei: Das Ausatmen wird nicht forciert, die Luft strömt von allein aus dem Mund. Wer regelmässig übt, hat mit der Zeit auch eine bessere Selbstwahrnehmung. Das ist im Alltag eine wichtige Voraussetzung, frühzeitig Stresserkrankungen vorzubeugen.

Aktiver Atem
Aktives Atmen hilft beim Abschalten.

Rheumaliga Schweiz: Wie kann man Atemübungen in Routinen integrieren, z. B. morgens, beim Pendeln oder vor dem Einschlafen?

Gollwitzer: Eine sehr wichtige Frage: Die allerbesten Übungen nützen nichts, wenn sie nicht in den Alltag transferiert werden. Mit Alltag meine ich tägliche, automatisierte Routine. Ich spreche mit Kursteilnehmern und Klientinnen oft über Routinen: Wann stehen Sie normalerweise auf? Wann gehen Sie zu Bett? Welche Tätigkeit wiederholt sich in Ihrem Tagesablauf? Wie oft und wann könnten Sie sich am besten die Zeit nehmen, einen Moment lang ungestört Ihre Atmung zu beobachten? Am einfachsten lassen sich Übungen einbauen, wenn sie direkt vor oder nach einer Tätigkeit praktiziert werden: Also vor oder nach dem Essen, dem Zähneputzen oder auf der Toilette.

Anschliessend braucht es während zwei bis vier Wochen besondere Aufmerksamkeit rund um diese Tätigkeiten, danach ist die Atemübung «integriert». Wer durch Lärm, Hektik und Dichte leicht gestresst ist, sollte vielleicht zu Beginn eher einen geschützteren Atemraum finden. Entscheidend ist übrigens nicht, wie lange Sie üben, sondern wie häufig über den Tag verteilt: Dreimal 5 Minuten können mehr bewirken als einmal 20 Minuten. Fünf Mal eine Minute kann mehr bewirken als dreimal 5 Minuten.

Riechen und schnüffeln Sie gemeinsam mit Ihren Kindern an Blumen, Gemüse, Gewürzen und Gerichten. Das aktiviert das Zwerchfell. Sie brauchen dabei weder den offenen Mund noch die Atmung zu erwähnen. Einfach nur vormachen, wie Sie daran schnuppern.
Mona Gollwitzer

Rheumaliga Schweiz: Gibt es denn einen Unterschied zwischen Atemtechniken zur Entspannung, zur Steigerung der Energie oder zur Konzentration? Können Sie Beispiele nennen?

Gollwitzer: Alle Atemtechniken, die zu einer Verlangsamung der Atmung führen, aktivieren den Parasympathikus und wirken daher entspannend. Das Verhältnis 3 zu 5 – also beim Einatmen auf 3 zählen und beim Ausatmen auf 5 – oder die Lippenbremse – ein Kussmund beim Ausatmen – sind Beispiele hierfür. Wenn Sie dabei liegen, werden Sie sich womöglich noch mehr entspannen können.

Übungen, die den Atemimpuls tief unten im Bauch anregen und zu einer unwillkürlichen, verstärkten Einatmung führen, machen hingegen vital und energetisieren. Das Federn aus dem Erfahrbaren Atem nach Middendorf ist so ein Beispiel: Sie stellen sich hüftbreit hin, Kniegelenke locker halten, und beginnen aus den Fuss- und Kniegelenken heraus zu Federn. Die Fusssohle bleibt zu Beginn auf dem Fussboden, der Oberkörper bleibt aufgerichtet. Es ist, als hätten Sie eine grosse spiralförmige Feder im Übergang vom Fuss in den Unterschenkel, die wird zusammengedrückt und schnellt dann wieder in die entgegengesetzte Richtung.

Mit dem Aktivieren der Nasenatmung sowie dem Aktivieren von links- und rechtshemisphärischen Hirnarealen steigt auch die Konzentrationsfähigkeit. Die bekannteste Übung hierzu ist die Wechselatmung. Sie kommt aus der uralten Tradition des Yoga, das ich gerne in mein Übungsrepertoire integriere: «Beugen Sie Zeige- und Mittelfinger und verschliessen Sie nun ein Nasenloch abwechslungsweise mit dem Ringfinger oder Daumen. Ausatmen und wieder Einatmen durch denselben Nasengang, dann wechseln. Der Wechsel erfolgt immer nach dem Einatmen. Forcieren Sie den Atem nicht, sondern warten, bis er von selbst kommt.»

Bewusstes Atmen im Alltag
Unter Stress atmen wir schneller und aktivieren die Muskeln im oberen Brust- und Halsbereich.

Rheumaliga Schweiz: Gibt es Atemübungen, die sich besonders gut für Kinder oder ältere Menschen eignen?

Gollwitzer: Bei Kindern in meiner Praxis beobachte ich oft eine habituelle Mundatmung. Dadurch bewegt sich das Zwerchfell schneller und oberflächlicher. Riechen und schnüffeln Sie gemeinsam mit Ihren Kindern an Blumen, Gemüse, Gewürzen und Gerichten. Das aktiviert das Zwerchfell. Sie brauchen dabei weder den offenen Mund noch die Atmung zu erwähnen. Einfach nur vormachen, wie Sie daran schnuppern.

Der häufigste Grund für Hochatmung und Kurzatmigkeit bei älteren Menschen hingegen ist ein unbeweglicher Brustkorb mit einseitig aktivierter Muskulatur. Alle brustöffnenden Übungen, die das Brustbein heben oder die Schulterblätter lockern, unterstützen die Atmung. Hier braucht es jedoch in der Regel ein geübtes Auge, damit sich die Situation durch unsachgemässes Üben nicht noch verschlechtert. Auf der Homepage desAtemfachverbandes AFS Schweizfinden Sie kundige Fachleute in Ihrer Nähe.

Rheumaliga Schweiz:Gibt es eine Übung, die Sie besonders gerne selbst anwenden – und warum?

Gollwitzer: Ich springe zwischendurch die Treppen hoch, damit meine Atmung angekurbelt wird. Dann nehme ich mehrmals am Tag bewusst meine Atembewegung wahr: Wo und wie spüre ich sie? Am Brustkorb oder im Bauch? Frei oder gehalten? Wenn ich für mich allein bin, lege ich gerne auch mal meine Hände auf meine Brust oder meinen Bauch, um besser spüren zu können. Das Wahrnehmen meiner Atmung und der Hautkontakt beruhigen mich. Und wenn ich ruhig bin, kann ich das Wesentliche besser vom Unwesentlichen unterscheiden.

Nasenatmung im traditionellen Yoga
Mit dem Aktivieren der Nasenatmung sowie dem Aktivieren von links- und rechtshemisphärischen Hirnarealen steigt auch die Konzentrationsfähigkeit.

Hintergrundinformationen zur Expertin

Mona Gollwitzer ist KomplementärTherapeutin mit eidg. Diplom, Methode Atemtherapie, und leitet die Gruppe „Atmen und Bewegen“ für Erwachsene mit Atemwegserkrankungen der Lungenliga Olten. Seit 2003 führt sie ihre Praxis für Atemtherapie und Psychologische Beratung in Wisen im Kanton Solothurn. Sie ist ausserdem als Kursleiterin bei der Lungenliga tätig.

Dieser Text wurde in gekürzter Form im Mitgliedermagazin forumR 4/2025 der Rheumaliga Schweiz publiziert.

Autorin: Vivian Decker

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