
Als Lisa Welter ins Podcaststudio kommt, macht sie als erstes ein Foto – «damit ich mich an schlechteren Tagen an etwas Schönes erinnern kann». Die ehemals sportlich aktive 35-Jährige lebt mit ME/CFS und Long Covid und kann 95 Prozent dessen, was sie vor ihrer Covid-Erkrankung konnte, nicht mehr tun. Trotzdem ist sie lebensfroh geblieben. Neue Ressourcen fand sie dank kreativen Strategien: dem 5-Minuten-Tagebuch, einem «Sorgenfresser»-Kuscheltier, Freund*innenbesuchen am Bett – und der Haltung, ihre Erkrankung wie ein Projekt zu betrachten.
Gesprächspartnerin Antoinette Wenk, Gesundheitsökonomin und Mitgründerin des Resilienz Zentrums Schweiz, nickt beeindruckt. Sie ergänzt: «Resilienz ist nicht starr. Es ist ein Prozess – und bedeutet auch, sich mental, physisch und sozial immer wieder neu auszubalancieren.»
In der neuen Podcast-Episode von «Rheuma persönlich» sprechen die beiden über Ressourcen, Stolpersteine und Hoffnung.
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«Ich habe eine Erkrankung – aber ich bin nicht die Erkrankung»
Trotz schwerer Einschränkungen strahlt Lisa Welter Lebensfreude aus. Ihr Optimismus und ihre soziale Art helfen ihr, sich nicht vollständig von der Krankheit bestimmen zu lassen. Gleichzeitig kennt sie ihre Grenzen genau: «Damit ich heute hier sein kann, musste ich in den letzten Wochen vieles weglassen – u.a. einkaufen, putzen, Freunde treffen.»
Für sie war Akzeptanz ein wichtiger Schritt: zu erkennen, dass ihr Alltag nicht mehr so funktioniert wie früher – und dass es auch okay ist, wenn es einmal nicht gut läuft. «Resilienz bedeutet für mich auch auszuhalten, dass es keine Lösung gibt – und das nicht schönzureden.»
ME (Myalgische Enzephalomyelitis) ist eine chronische neuroimmunologische Krankheit, welche in den meisten Fällen nach einem viralen Infekt eintritt. ME kann zu schwerer Behinderung führen. Die genaue Ursache der Erkrankung ist mangelhaft erforscht, doch es konnten bereits diverse Dysfunktionen des Nervensystems, des Hormonsystems, des Immunsystems und weiterer Systeme und Organe nachgewiesen werden. Weitere Informationen: Schweizerische Gesellschaft für ME/CFS, www.sgme.ch
Resilienz ist eine Balance
Antoinette Wenk erklärt im Podcast das Bild des Resilienzrads: Verschiedene «Kuchenteile» wie Optimismus, Akzeptanz, Kreativität oder Selbstverantwortung tragen dazu bei, psychisch stabil zu bleiben. Wichtig sei die Balance: zu hohe Erwartungen können ebenso belasten wie ein zu tiefer Anspruch an sich selbst.
Auch kleine Rituale helfen, im Gleichgewicht zu bleiben. Lisa Welter schwört auf ihren Morgenkaffee im Bett: «Ich verstehe nicht, wie Menschen gestresst in den Tag starten können – für mich sind diese zehn Minuten Ruhe Gold wert.»

Tools für den Alltag
Lisa Welter hat sich über die Jahre eine ganze «Werkzeugkiste» an Resilienz-Strategien zusammengestellt:
- 5-Minuten-Tagebuch: Dankbarkeit und Vorfreude bewusst wahrnehmen
- Sorgenfresser-Kuscheltier: Belastendes symbolisch abgeben
- Freundschaften pflegen: Treffen mit Timer – angepasst an ihre Energie
- Sprachnachrichten ohne Lösungsdruck: Gefühle teilen, ohne dass jemand sofort Ratschläge geben muss
- Fotos und Erinnerungen sammeln: als «Leuchttürme» für schlechte Tage
«Wichtig ist, dass man kreative Alternativen findet», betont Antoinette Wenk. «Resilienz heisst nicht, Belastungen wegzuwischen, sondern Wege zu suchen, wie man mit ihnen leben kann.»
Wann Hilfe wichtig ist
Resilienz bedeutet nicht, alles allein zu schaffen. «Wer merkt, dass sich Erschöpfung, Rückzug oder Stress häufen, sollte frühzeitig Unterstützung suchen», sagt Wenk. Lisa hat deshalb proaktiv eine Psychotherapie begonnen – als es ihr psychisch gut ging und nicht erst, als es gar nicht mehr ging. «Ich wünschte mir, dass alle Menschen diesen professionellen Raum hätten, z.B. zur Unterstützung des Akzeptanzprozesses einer lebensverändernden Erkrankung, auch ohne psychische Diagnose.»
Kleine Übungen für mehr Resilienz
Antoinette Wenk gibt einfache Tipps, die Betroffenen wie auch Angehörigen helfen können, Stress zu regulieren:
- Atemübungen, zum Beispiel den «physiologischen Seufzer»
- Kurzes Innehalten und 20 Sekunden bewusst Schönes aufnehmen («Take in the Good»)
- Sanftes Klopfen auf Akupressurpunkte («Tapping»), um das Stresszentrum im Gehirn zu beruhigen
- Kleine Bewegungen oder Gesten (z.B. Body2Brain Übungen), die Balance ins Nervensystem bringen
«Sei stolz auf dich»
Am Ende richtet Lisa Welter einen bewegenden Appell an die Hörer*innen:
«Wir sind viel zu selten stolz auf uns. Sei stolz auf dich, auch wenn es gerade schwer ist. Und gib die Hoffnung nicht auf – es gibt Menschen, die daran arbeiten, dass es uns irgendwann besser geht.»
Auch Antoinette fasst zusammen: «Resilienz heisst, das anzuerkennen, was man trotz schwieriger Situation schon gut macht – und sich selbst dafür wertzuschätzen.»